Briten hatten noch nie eine allzu hohe Meinung von ihrer Presse: Englische Journalisten stehen ganz unten in der Liga der respektablen Berufe. Das hat auch damit zu tun, dass die "News of the World", kaum war sie 1843 gegründet, mit Geschichten über Prostitution und das Leben der Unterwelt Leser fand. Als billigste Zeitung wandte sie sich bewusst an die städtische Arbeiterklasse, in der nach Reformen und dem Ausbau der Schulen immer mehr Menschen lesen konnten. Seitdem gelten Journalisten als Menschen, die nicht im richtigen Milieu verkehren.

Bis heute hat sich daran nicht viel geändert: Britische Boulevardzeitungen gelten mit ihrer Mischung aus Sex, Verbrechen, Klatsch und hoher Politik als die aggressivsten der Welt. Angetrieben wird dieser Journalismus von einem gnadenlosen Konkurrenzkampf und einem Berufsethos, bei dem auflagensteigernde "Scoops" - Exklusivgeschichten, Enthüllungen und Sensationen - den höchsten Stellenwert haben. Der Schutz der Privatsphäre spielt eine schwindende Rolle. Dies wird im Boulevardjournalismus auch durch eine stille Komplizenschaft zwischen Journalisten und Promis geschürt. Denn beide Seiten profitieren davon.

Sprachrohr des Volkes

Die NOTW, die noch in den 1990ern eine Auflage von über sechs Millionen hatte und zuletzt bei 2,7 Millionen lag, war die Krönung ihres Genres - Sonntagszeitungen bleiben immer die packendsten Sensationen vorbehalten. Niemand kann sagen, die Zeitung hätte in den letzten 40 Jahren unter Rupert Murdoch nicht glorreichen Journalismus gemacht. Neben Klatsch und Sex war dies Großbritanniens führende Kampagnenzeitung. Denn Boulevardzeitungen decken nicht nur Sexskandale auf, sie fühlen sich als Sprachrohr des Volkes und kämpfen gegen Privilegien, Klassendünkel, Heuchelei und "politische Korrektheit".

Die Erfolgsliste der NOTW ist lang. Die Zeitung setzte durch, dass verurteilte Pädophile in öffentlichen Registern geführt werden und Eltern gewarnt werden, wenn Kinderschänder in ihrer Straße wohnen. Eine Kampagne setzte eine würdigere Behandlung von Soldaten durch und erzwang, dass das feierliche Versprechen gesetzlich verankert wurde, diejenigen und ihre Angehörigen zu schützen, die ihr Leben aufs Spiel setzen. Vor Kurzem bekam sie den "Scoop of the Year"-Preis für ihre Aufdeckung von Korruption im Cricket.

Berühmt wurde die NOTW für ihren Starreporter Mazher Mahmood, der als "falscher Scheich" 250 Aufschneider und Schwindler überführt haben soll. Recherchen mit versteckten Kameras, Scheckbuchjournalismus sind keine Seltenheit und Rechtsgrenzen werden oft überschritten. Für die Schlagzeile "F1-Boss in Nazi-Orgie mit Nutten" musste sie wegen Verletzung der Privatsphäre von FIA-Chef Max Mosley 60.000 Pfund Strafe bezahlen.

Letztlich steht auch hinter dem jüngsten Skandal der erbarmungslose Konkurrenzdruck. Da es praktisch keine Abos gibt und Lokalzeitungen kaum eine Rolle spielen, kämpfen ein halbes Dutzend nationaler Zeitungen jeden Tag mit ihren Schlagzeilen um die Aufmerksamkeit am Kiosk.

Boulevardjournalismus ist riskant, aggressiv, witzig - aber nicht nur von niedrigen Instinkten getrieben. In die Wut der Redakteure über die Schließung mischt sich trotziger Stolz. "Die letzten vier Jahre haben wir einen Qualitätsjournalismus gemacht, der nichts mit der Zeitung zu tun hat, über die jetzt berichtet wird", verteidigt sich Redakteur Dan Wootton. Ex-Chefredakteur Andy Coulson sagte dem "Guardian": "Boulevardzeitungen in Großbritannien tun mehr für die Menschen als irgendwelche anderen Zeitungen in der Welt."

Leitartikel Seite 8