Herr Geiger, durch Ihre autobiografische Erzählung "Der alte König im Exil" ist Ihr an Alzheimer erkrankter Vater mittlerweile Hunderttausenden Lesern und Leserinnen zu einem enorm vertrauten Menschen geworden. Wie geht es ihm derzeit?

ARNO GEIGER: Es geht ihm gut. Wir können ja nur noch in dem von der Krankheit vorgegebenen Rahmen denken und da könnte ich das noch steigern: Momentan geht es ihm eigentlich sehr gut sogar.

Ihr Vater wurde durch das Buch ja auch zu einer großen Symbolfigur. Wie hat er das aufgenommen?

GEIGER: Eher momenthaft. Wenn ich ihm davon erzähle, habe ich aber oft schon das Gefühl, dass er das versteht und viel Freude daran hat. Aber er bekommt ja auch im Ort eine enorme Bestätigung. Der Respekt ist viel größer, das ganze Umfeld viel positiver, offener geworden. Es entstand eine neue Unbefangenheit, die ja im Umgang mit Demenzkranken oft fehlt, was völlig falsch ist.

Trotzdem hält er Sie aber nach wie vor für seinen Bruder und nicht seinen Sohn Arno?

GEIGER: Da verwischt sich vieles. Aber was vor zehn Jahren noch ein Schrecken gewesen wäre, also, dass mein Vater mich nicht mehr als Sohn erkennt, ist heute der Erleichterung gewichen, dass er mich als einen ihm wichtigen Menschen wahrnimmt.

Das Buch bricht seit seinem Erscheinen vor knapp drei Wochen alle Auflagenrekorde, es war einige Zeit sogar restlos vergriffen und es spricht vor allem eine völlig neue Leserschaft an. Hätten Sie das auch nur annähernd erwartet?

GEIGER: Ehrlich, die aktuelle Auflagenzahl kenne ich gar nicht. Sie ist sicher schon sechsstellig, aber das ist überhaupt nicht wichtig.

Sondern?

GEIGER: Wichtig sind die zahllosen Reaktionen, wichtig ist, das merke ich immer wieder, dass hier ein tiefes Bedürfnis besteht, den Angehörigen, die schwach geworden sind, ganz anders gegenüberzutreten. Die finsteren Gespenster, all die Klischees, die diese Krankheit umgeben, weichen langsam einer anderen Einstellung. Die Krankheit ist schlimm genug.

Es ist ein sehr persönliches Werk, auch über Vaterliebe, zuletzt gab es aber auch einige negative, fast bösartige Kritiken. Trifft Sie das nicht sehr tief?

GEIGER: Nein, überhaupt nicht. Es war ganz klar, dass nach 30 oder 50 euphorischen Kritiken jemand kommt, der auf billige Art seine Punkte sammeln will. Mir war klar, dass das passieren wird. Und jetzt habe ich es hinter mir.

Ihnen wurde aber immerhin auch vorgeworfen, nur eine Scheinidylle zu erzeugen, oder gar, den Vater bloß als Material missbraucht zu haben?

GEIGER: Völlig aberwitzig. Das Buch ist auf das hin nicht belastbar, weil die Schrecken dieser Krankheit darin ja allgegenwärtig sind. Zum Teil kommen diese Vorwürfe offenkundig von Leuten, die keine Ahnung haben. Weder von der Demenz, noch vom Leben. Da haben sich eben manche die schon erwähnten finsteren Klischees erwartet. Die kommen nicht vor. Die Wahrheit ist doch, dass Demenz enorm viele Gesichter hat. Und eine der wichtigsten Wahrheiten lautet, dass die Erkrankten nicht dumm sind. Sie haben nur meist keinen oder einen anderen Zugriff auf ihre Intelligenz. Das wollte ich klarstellen und zeigen.

Angst sei, speziell im Umgang mit Alzheimer, ein ganz schlechter Ratgeber, schreiben Sie. Was daran ist grundfalsch?

GEIGER: Ich hatte, als die Diagnose feststand, eine völlig falsche Vorstellung von Demenz, ohne Zukunftsperspektive. Und diese Angst war ein ganz schlechter Ratgeber, weil ich die Möglichkeiten, die es trotzdem noch gab und gibt, viel zu lange nicht gesehen habe. Ich dachte, ich könnte mit meinem Vater nie mehr richtig reden, wir könnten nie mehr glücklich sein. Das Allerletzte wäre ein Buch gewesen, das genau diese Ängste schürt. Wer Angst hat, verliert den Blick auf die Realität. Ich kann die Krankheit nicht ändern, sehr wohl aber meine Einstellung dazu.

Wie wandelte sich diese?

GEIGER: Es geht um die Lebensrealität von Menschen, die ja, gerade am Beginn der Krankheit, oft wissen, was da mit ihnen geschieht. Ihr Selbstbildnis ist von Minderwertigkeitsgefühlen geprägt. Ich habe versucht, dieses Selbstbild zumindest etwas zu verbessern. Und auch den Umgang mit den Menschen. Sie brauchen immer das Gefühl, nicht nutzlos zu sein. Wer dabei die Hoffnung aufgibt, der ergibt sich dem Stillstand.

Ihr Buch ist reich an Hoffnung und Glücksmomenten. Ist das nicht manchmal trügerisch?

GEIGER: Es ist Glück! Wenn mein Vater über das ganze Gesicht strahlt, ist das ein gleichberechtigtes Glücksgefühl wie jedes andere auch. Nicht dement, nicht minderwertig. Gegen dieses Vorurteil wehre ich mich ja so sehr.

Sie zitieren an einer Stelle den Philosophen Derrida: dass man stets um Vergebung bittet, wenn man schreibt. Zur Angst gesellten sich also auch Schuldgefühle?

GEIGER: Am Anfang, als ich alles nicht wahrhaben wollte, ja. Das war eine unheimliche Vergeudung von Kräften, von Lebensqualität. Ich wollte den Gedanken nicht zulassen, dass mein Vater krank ist. Dann kam viel Hilflosigkeit, auch falsche Scham ins Spiel. Die Krankheit spielt am Beginn ja Katz und Maus mit uns, ich gab mich her, Maus zu sein. Ich hätte viel rascher, offensiver reagieren müssen.

Auf welche Weise konkret?

GEIGER: Indem man die Krankheit offen thematisiert, Ärzte beizieht, den Betroffenen das Gefühl gibt, ihnen zur Seite zu stehen und nicht ständig auch noch mit Widerstand zu reagieren.

Dennoch: Demenz wird oft tabuisiert, sie gilt als Ausnahmezustand. Ist das in einer Gesellschaft, in der es kaum Normalzustände, aber ein ständig wachsendes Wissens-Chaos und Denkwirrnisse gibt, nicht eine große Anmaßung?

GEIGER: Ganz sicher. Wir sind alle schwächer, als wir uns das einbilden. Wir alle haben nur begrenzte Spielräume, in denen wir navigieren können. Alles will erklärbar gemacht werden, dennoch entgleitet uns immer wieder die Kontrolle. In großen Teilen der Gesellschaft herrscht das tückische Gefühl, dass alles machbar ist, und dann brechen wieder nicht vorhergesehene Ereignisse herein.

Ihre jüngeren Werke waren Generationenromane, von "Es geht uns gut" bis zu "Alles über Sally". Nun wenden Sie sich der ältesten Generation zu. Nur ein Zufall?

GEIGER: Ja. Da steckt kein Schema dahinter. Diesmal schrieb ich eben auch eine Vater-Sohn-Geschichte. Und ich schrieb, was es heißt, alt und gebrechlich zu werden, weil ich viel darüber erfahren und daraus gelernt habe.

Die Lektion kam offenkundig an.

GEIGER: Hoffentlich. Von uns Schriftstellern erwartet man zu Recht, dass wir darüber schreiben, was wichtig ist. Diese Geschichte war mir ganz besonders wichtig. Ich lernte, dass das Alter eine Lebensetappe ist, gleichberechtigt neben allen anderen. Der junge, produktive Mensch ist nicht die Norm, das ist nur ein Lebensabschnitt. Und der Alte ist kein geminderter Junger. Meinem Vater verdanke ich ein völlig anderes Zusammengehörigkeits- und Zeitgefühl: Wir sind alle nur Kinder des Augenblicks.