Claus Peymann und Gert Voss sitzen in einem lichtdurchfluteten Büro im Berliner Ensemble am Brecht-Platz in Berlin, auf dem Dach des Theaters weht einsam eine Fahne. Intendant Claus Peymann hat sie an diesem Tag hissen lassen, eine Fahne mit dem Porträt seines Freundes Thomas Bernhard, der am 9. Februar seinen 80. Geburtstag gefeiert hätte. Die beiden kommen von dreistündigen Proben zum Bernhard-Stück "Einfach kompliziert", das am 12. Februar am Akademietheater Premiere hat.

Sie spielen und inszenieren zum 80. Geburtstag von Thomas Bernhard ein Stück über einen alten Schauspieler, ein Stück über Verrücktheit, Trauer, Einsamkeit und kehren damit nach Wien zurück. Was bedeutet Ihnen persönlich diese Rückkehr mit einem Stück von Bernhard?

GERT VOSS: Also ich denke gar nicht so sehr nach über Worte wie Rückkehr. Ich habe mich wahnsinnig gefreut, wie mir Claus Peymann dieses Stück von Bernhard zu lesen gab.

CLAUS PEYMANN: Wie begeht man den 80. Geburtstag eines Genies? Indem man so ein Meisterwerk zeigt mit einem Meisterspieler wie Gert Voss. Ich finde es einfach angemessen, dieses Meisterwerk den Wienern aus Dankbarkeit zu schenken, aber auch den Bernhard damit irgendwie zu feiern. Ich hätte nicht die geringste Lust, jetzt eine Gewaltanstrengung wie Theatermacher oder Heldenplatz zu inszenieren. Dazu würde mir das Motiv fehlen. Ich habe ja die Inszenierungen der Stücke von Bernhard in erster Linie nur auf den Glückspunkt hin inszeniert, dass er sich freut oder zufrieden ist. Nach Heldenplatz hat er geweint, nach "Ritter, Dene, Voss" hat er mich gerührt umarmt und gesagt: Das ist Vollendung. Ohne diese Belohnung wüsste ich gar nicht, wie ich mich verhalten soll.

Letztes Jahr hat Sie immerhin das Premierenpublikum am Burgtheater für Richard II mit frenetischem Applaus belohnt.

PEYMANN: Ja, das hat mich berührt, auch weil die Jahre des Peymann-Boykotts der Ära Bachler beendet waren.

Da haben Sie jetzt Ihre Inszenierung von "Ritter, Dene, Voss" im Jahr 2004 vergessen.

VOSS: Ja, das stimmt, das haben wir auch in Wien gespielt.

In "Einfach kompliziert" sagt dieser alte, vereinsamte Schauspieler: "Die Menschen sind grausam und größenwahnsinnig." Und Thomas Bernhard meinte einmal, ein Künstler ist erst der wahre Künstler, wenn er durch und durch wahnsinnig ist. Finden Sie sich da wieder?

VOSS: Ich bin immer erstaunt, wie viel Bernhard von Schauspielerei versteht. An dieser Rolle des alten Schauspielers fasziniert, dass dieser Mann verrückt ist - wie alle guten Schauspieler und Regisseure verrückt sind, weil man sie nicht abmessen kann.

PEYMANN: Wie bei Bernhard. Das ist ja das, was ihn hoffentlich vor einer endgültigen Vereinnahmung durch die österreichische Obrigkeit und Gesellschaft schützen wird - sein wahnwitziges Balancieren am Abgrund. Das ist ja in allen Figuren Bernhards auffindbar: dieses Spiel gegen alle und diese Verweigerung. Dieser Schauspieler in "Einfach kompliziert" ist ein blitzgescheiter Denker von Bernhards Gnaden, eine Bernhard-Figur, ein Don Quichotte, der daran scheitert, dass die Welt so unvollständig ist. Aber am Ende siegt dann doch die Lebenslust. Das zeigt die Widerstandsfähigkeit dieser Menschen. So hat ja auch Bernhard überlebt.

Wie oft fühlten Sie sich in Ihrer langen Zeit am Burgtheater als Don Quichotte?

PEYMANN: Das merkt man ja selbst nicht. Aber Bernhard erscheint mir manchmal in meinen Träumen.

VOSS: Mir erscheint er nicht, aber für Claus Peymann war er ein Stück seines Lebens.

PEYMANN: Einmal im Monat habe ich meinen Bernhard-Tag.

Sagt er Ihnen etwas im Traum?

PEYMANN: Er sagt mir, ich soll niemandem erzählen, dass er weiterlebt. Ich denke, dass das Phantomträume sind, wie es Witwen haben.

Wie kompliziert war denn Ihre Freundschaft?

PEYMANN: Mit so jemandem befreundet zu sein, ist schon einmal ein Problem für sich. Zu Beginn musste ich ja in Gasthöfen in der Nähe in Ohlsdorf wohnen. Dann habe ich mich langsam vorgearbeitet bis ich in seinem Hof auf einer Luftmatratze vor dem Bad schlafen durfte.

Sie haben später sogar gemeinsam Urlaub gemacht.

PEYMANN: In Korsika, aber das ging schnell schief. Er wollte gleich nach dem Frühstück wie ein richtiger oberösterreichischer Bauer schon das Mittagessen einnehmen, als ich gerade zum Strand wollte.

Das Theater, meinte Bernhard, bringe ihm nicht nur Geld, sondern vor allem auch die Erhaltung seiner Freundschaften. Da hat er wohl auch an Sie gedacht.

VOSS: Bitte erzähl eure erste Begegnung.

PEYMANN: Ich wollte "Ein Fest für Boris" inszenieren, habe mich in Hamburg in den Zug gesetzt und bin abends vor seinem damals verfallenen Vierkanthof gestanden, aber er war nicht da. Im nächsten Dorfgasthaus habe ich dann die ganzen Bernhard-Figuren in der Wirtsstube gesehen und ein Zimmer genommen. Plötzlich reißt mir jemand mitten in der Nacht die Decke weg. Da stand ein Mann in grüner Jagdkleidung und rief: "Stehen Sie auf." Es war bei ihm immer alles überfallsartig.

Sie haben bei ihm die Rolle getauscht?

PEYMANN: Ja, er bestimmte die Beziehung. Bei ihm war ich der Knecht, er die Redefigur.

VOSS: Ich bewunderte seine Lust, wie er mit Worten zu galoppieren begann und dann steht man plötzlich fassungslos vor seinen Sätzen. Alle Figuren von Bernhard sind größer als wir. Figuren, die man nicht in die Tasche stecken kann - wie nichts von Bernhard. Dazu ist er zu sperrig, zu großartig.

Herr Voss, Sie haben ja eine Vorliebe für Stücke, die Ihnen auch ein wenig Angst machen und für Rollen, die Menschen am Ende ihrer Macht darstellen, Richard III, Othello. Was macht bei diesem alten Schauspieler in "Einfach kompliziert" Angst?

VOSS: Wenn ich ehrlich bin, habe ich vor jeder Rolle eine gewisse Angst gehabt. Ich dachte zunächst immer, ich sei zu klein für die Rolle.

Verraten Sie, wie spannungsgeladen die Proben ablaufen zwischen einem Regie-Giganten und einem Schauspiel-Giganten, die ja auch schon heftig gegeneinander gekämpft haben?

VOSS: Es ist ganz lustig, Peymann ist geblieben wie er ist - mit seinem Temperament. . . .

PEYMANN: Gert, du aber auch . . .

VOSS: . . . mit seiner Wahnwitzigkeit, dieser Genauigkeit wie er zuhört. Claus, halt jetzt die Ohren zu: Er ist wirklich ein Genie im Zuhören, im Hören.

Also keine Spur mehr vom Tyrannen der Schauspieler, wie sich Peymann einmal nannte?

PEYMANN: Das habe ich bestimmt nicht gesagt, ich habe gesagt, dass bei Proben auch Tränen fließen. Es können verzweifelte Momente der Suche entstehen. Wenn ein Kollege etwas nicht begreift, gibt es Verzweiflung, aber nicht Tyrannei.

Aber Schauspieler haben Angst vor Regisseuren . .

PEYMANN: Und umgekehrt, ich habe auch Angst vor dem Gert.

Herr Voss, was halten Sie von diesem Bekenntnis?

VOSS: Ach, wenn man in einer Produktion drinnensteckt, entstehen völlig neue Dinge.

PEYMANN: Ich hatte nie Angst, dass mich jemand verprügelt, aber Angst vor dem Misslingen, Angst, ob ich den richtigen Vorschlag mache.

Die Rolle der Reizfigur, des Aufweckers von Wien, der als Direktor das Burgtheater entstaubte und mit Regisseuren wie Zadek oder Tabori für neues Theater sorgte, haben Sie genossen. Auch die Hetzkampagnen vor der Premiere von Bernhards "Heldenplatz" oder die Aufforderungen, das Land zu verlassen?

PEYMANN: Es hat Spaß gemacht - und es war schwer. Heldenplatz war sicher der Höhepunkt. Heldenplatz hat für einen Moment mit der Lüge dieses Landes aufgeräumt, es wäre das erste Opfer des Faschismus gewesen.

VOSS: Ich war völlig überrascht über diese Erregung. Ich dachte mir damals: Da müsste man auch bei Richard III toben. Es war absurd und ich hatte bis dahin nie erlebt, dass Politiker sich mit Aufrufen profilieren, ein Theater zu boykottieren.

PEYMANN: Die Kronen Zeitung hat auf der Titelseite mit einem brennenden Burgtheater indirekt zum Abbrennen des Theaters aufgerufen.

Sie sehen heute die Zeit, in der Bernhard als Nestbeschmutzer und Sie als Piefke beschimpft wurden anders. Warum?

PEYMANN: Aus der Distanz der Jahre ist es natürlich auch etwas Einmaliges, dass Theater so etwas überhaupt bewirken kann und dass es ein Land gibt, in dem Theater eine so große Rolle spielt. Das geht mir hier ab.

Thomas Bernhard hat Sie 1986 vor Ihrem Beginn am Burgtheater vor Wien gewarnt. Wie hat er Sie denn vorbereitet?

PEYMANN: Er hat mir gesagt, wo ich in Wien aufpassen muss, wem ich glauben darf, wem nicht. Ich hatte wie viele Deutsche ein völlig falsches Bild von Österreich. Ich dachte, das ist eine Unterabteilung von Bayern. Das war ein tragischer Irrtum. Karl Kraus hat einmal gemeint, der größte Unterschied zwischen Österreichern und Deutschen ist die gemeinsame Sprache. Diesem Paradoxon ist kaum etwas hinzuzufügen. Die Musikalität und die Boshaftigkeit, das Barocke sind so sehr Nationalcharakter, dass man nur davon träumen kann, dies in Deutschland zu finden - diese Sensibilität für Sprache, aber auch diese Gehässigkeit.

VOSS: Wir haben es anfangs in Wien nicht leicht gehabt. Da hat es Klubs gegeben, die sich auf die Fahnen schrieben: Wir müssen sie rausekeln.

Sie haben damals Österreich als ein Land der Operette und Fassade empfunden. Wie denken Sie heute?

VOSS: Ich mochte Wien am Anfang überhaupt nicht und dachte auch: Da passen wir nicht hin.

PEYMANN: Das stimmte ja auch.

VOSS: Ich dachte, ich bleibe vielleicht ein, zwei Jahre. Jetzt sind es 24 Jahre. Da sieht man, wie man sich irren kann. Aber die erste Zeit war unangenehm, da gab es Drohungen mich zu liquidieren, einmal bekam ich in der Garderobe ein kleines Paket . . .

PEYMANN: Schön eingepackt. . .

VOSS: . . . mit den Zeilen: "Danke für alles, was Sie uns geschenkt haben". Da war ich ganz gerührt, habe es aufgemacht und die Bescherung gesehen: Scheiße, schön auf einem Haufen.

Eine Reaktion auf ein Stück von Thomas Bernhard?

PEYMANN: Nein, nur darauf, weil er in Wien spielte und aus Deutschland und nicht aus Tirol kam. Thomas Bernhard hat mir ja erklärt, dass ich bestenfalls ein Jahr in Wien bleiben werde. Er sagte: "Ich habe für Sie eine Suite in einem Hotel besorgt. Eine Wohnung zahlt sich nicht aus."

Er hat also nicht nur eine Hose für Sie gekauft, weil er Ihre Jeans für unpassend gehalten hat?

PEYMANN: Die Hose war schrecklich. Ich habe sie nie getragen und in den Fundus des Theaters gegeben. Jahre später ließ ich sie einmal für eine Rolle suchen, aber sie war weg. Heute trägt irgendein österreichischer Hintern diese historische Hose und weiß das gar nicht.

Wie nehmen Sie heute Österreich wahr?

VOSS: Es herrscht überall so eine furchtbare Mediokrität, es gibt keine Persönlichkeiten mehr in der Politik, denen man wirklich interessiert zuhört. Es gibt keinen Hecht, nur mehr Karpfen.

PEYMANN: Politiker waren nie ein Thema für mich. Es war natürlich ein Glück, dass zu meiner Zeit am Burgtheater Vranitzky den Gert Voss so gemocht hat. Zumindest offiziell, insgeheim hat er wahrscheinlich den Udo Jürgens lieber gehabt. Aber im Grunde sind heute unsere Politiker in Berlin genauso blass wie Faymann und andere in Wien. Man bekommt geradezu Sehnsucht nach Figuren wie Kreisky oder Helmut Schmidt oder Figuren von Bernhard-Format mit Bernhard-Tragik. Das sind heute völlig genormte Menschen. Schauen Sie unseren Bundespräsidenten an. Dagegen ist ja ein Heinz Fischer vielfältig. Der hat uns immerhin gebeten, dass George Tabori im alten Nationalratssaal eine Produktion macht. Wenn ich mir aber die Goldoni-Figuren Berlusconi oder Sarkozy anschaue, sind mir die brave Merkel oder der blasse Faymann aber immer noch lieber.

Fehlt ein Heldenplatz II?

PEYMANN: Ich bin sicher, dass das Theater wieder lebendigere Zeiten erleben wird. Es gibt einen ganz seltsamen Stillstand, obwohl der Terrorismus zunimmt, es über Nacht Hungerkämpfe in Tunesien gibt, sich in Paris keiner mehr in die Vororte wagt - aber es artikuliert sich nicht im Theater. Es wird aber das Angriffspotenzial am Theater wieder entstehen. Ich habe gelernt, dass das Theater über das abendliche Vergnügen hinaus Wirkung haben kann. Viele Theaterleute wissen das aber nicht, weil sie es nie erlebten.

Sie glauben weiter an die Verbesserung der Welt durch die Kunst?

PEYMANN: Ja, das glaube ich und deshalb bin ich auch ein bisschen lächerlich. Das ist meine persönliche Absurdität. Ich bin eine Art Politclown.

VOSS: Ich empfinde, dass es heute am Theater eine gewisse Selbstzufriedenheit gibt. Man ist mehr mit Dekoration als mit Inhalt beschäftigt und setzt sich komischerweise auch mit den Inhalten großer Stücke nicht mehr wirklich auseinander.

Thomas Bernhard meinte, der größte Feind des Schauspielers sei das Publikum. Empfinden Sie das auch?

VOSS: In "Einfach kompliziert" heißt es: "Ich habe gegen alle gespielt." Das stimmt. Man soll sich mit dem Publikum nicht gemein machen. Das Publikum ist kein Partner, sondern ein Gegner, ich darf mich und meine Phantasie durch das Publikum nie korrumpieren lassen.

Werden Sie vor der Premiere am Akademietheater wieder eine schlaflose Nacht haben?

VOSS: Das habe ich vor jeder Premiere.

PEYMANN: Ich auch. Dazu kommt die Neugier, wie bei den zwei Premieren in Wien und eine Woche später in Berlin das Publikum mit seiner völlig unterschiedlichen Mentalität auf diese typische Bernhard-Figur reagieren wird. Und auf den für Thomas Bernhard typischen Schlüsselsatz: Die Menschen haben das Denken verlernt.