Ein Kind mit umgeschnalltem Sprenggürtel auf dem Weg zum Terror-Blutbad, ein aufgehängtes, totes Pferd, das per Schwebekran durch die Luft gewirbelt wird und taumelt, Sexorgien und Gemetzel in einem Geviert aus Draht und Eisen, gewaltige Detonationen und Explosionen, die um den Bestand des Theaters fürchten lassen: Was wird da, hart an den Grenzen des auf einer Bühne überhaupt Möglichen, denn überhaupt gespielt?
Artauds Theater der Grausamkeit lässt aus dem einen Winkel grüßen, Dantes Inferno von rechts, in der Mitte aber steht, nein, rast - mehr Dampfross als Mensch - Goethes "Faust". Nicht so, wie ihn einst der Geheimrat schuf, sondern als Wiedergänger, in die Gegenwart geschleudert von Martin Kusej im Münchner Residenztheater. Wo er sich mit seiner Version des deutschen Lieblingsklassikers noch radikaler und kompromissloser zeigt, als er es in den bisherigen drei Jahren seiner Regentschaft ohnehin schon tat.
Mit jener fast kindlichen Neugier, aber auch der im positivsten Sinne fanatischen Forschersucht, die nur wenigen großen Theatermachern innewohnt, zerlegte der Kärntner Regisseur die beiden Teile der Tragödie wie eine Spielzeuguhr, um die innersten Räder freizulegen. Nicht, um sie dann wieder halbwegs ordentlich zusammenzufügen; eine neue, diesfalls ungeheuerliche Mechanik sollte ihren Lauf nehmen.
Und das tut sie, rund drei Stunden lang, dämonisch, düster, in einem schwarzen Bühnenloch. Oft nur schemenhaft erkennbar ist ein mehrstöckiges, häufig rotierendes Stahlkonstrukt, passend zum Text-Skelett, das von der ursprünglichen Fassung übrig blieb. Kusej stellte die Chronologie völlig auf den Kopf, der Pakt mit dem Teufel ist in einer nicht nur für ihn gottlosen Welt keinerlei Thema mehr. Sein Protagonist ist ein schnaubendes, wortschwitzendes Triebtier auf der Jagd nach der ultimativen Befriedigung, Mephisto erscheint als Teufelsweib, das die Verführerrolle weitgehend eingebüßt hat und all das Treiben mit Galgenhumor kommentiert.
Enorme Intensität
Ein magisches Dreieck verleiht der Aufführung enorme Intensität und Dichte: Werner Wölbern ist als Faust ganz in der Gegenwart verankert, Andrea Wenzl sorgt als Gretchen für berührende, naiv erscheinende Zwischentöne, und ganz und gar entfesselt fegt Bibiana Beglau als Mephisto durch die Finsternis. Sie besitzt die rare Gabe, sich nicht nur in die Figur hineinzuwühlen, sondern restlos in ihr aufzugehen. Und wenn sie bei John Lennons Mitpfeif-Klassiker "Jealous Guy", der berührenden Geschichte vom eifersüchtigen Kerl, mitsummt und singt, wird klar, dass in Kusejs Deutung der Hase in vielerlei Hinsicht in andere Richtungen läuft.
In einer Vielzahl von Kurzsequenzen samt Blackouts wollte Martin Kusej ein Abziehbild der Gegenwart liefern, in der es nur noch einen teuflischen Pakt gibt - mit der gnadenlosen Zerstörungswut. Des Rudels Kern - hier offenbart er sich. Am Ende bleibt das Ewig-Leere. Und das grandiose Werk eines Regisseurs, dessen Gefühls- und Gedankenweite keine Bühnenenge erträgt - also schlägt er sie mit donnernder Faust kurz und klein.