Herr Menasse, alle verwünschen die Krise. Sie heißen sie willkommen. Warum?

ROBERT MENASSE: Jeder denkende Mensch, der der europäischen Idee zustimmt, muss froh über diese Krise sein. Alle großen Fortschritte bei der Vergemeinschaftung Europas sind in Krisenmomenten entstanden. Jeder Versuch, in ruhigen Phasen Europa weiterzuentwickeln, wurde dagegen als utopisch und unnötig abgetan - bis die Defizite eben wieder eine Krise produzierten. Das ist auch mit dem Euro so. Man hat eine Gemeinschaftswährung beschlossen, aber eine gemeinsame Finanz-, Fiskal- und Wirtschaftspolitik oder Bankenaufsicht galten als niemals machbar. Nationale Interessen haben das blockiert. Erst die Krise zwingt jetzt dazu, diese Schritte zu setzen, und das ist gut so.

Hat die Krise Europa gestärkt?

MENASSE: Es soll eine europaweite Bankenkontrolle geben und die Europäische Zentralbank beginnt Handlungen zu setzen, wie sie eine wirkliche Notenbank setzen muss. Vor drei Jahren wäre das noch undenkbar gewesen.

Die Krise hat aber auch die Gegensätze verschärft: Arm - Reich, Nord - Süd, Euro - Nicht-Euro.

MENASSE: Es ist eines der großen Rätsel, warum Probleme, die überall auftreten, dann, wenn sie in der EU auftreten, als Beweis dafür gesehen werden, dass das vereinte Europa zum Scheitern verurteilt ist. Den Konflikt zwischen Nord und Süd gibt es in Italien, seit Garibaldi geritten ist. Aber kein Mensch hat je gesagt, daran sehe man, dass Nationalstaaten nicht funktionieren. Das ist eine typisch nationalistische Bewusstseinstrübung. Ich halte die EU sogar für geeigneter, solche Konflikte zu lösen. Dem Nationalstaat traue ich das nicht zu.

Warum nicht?

MENASSE: Weil Nationalismus - und seine politische Organisationsform ist eben der Nationalstaat - Konflikte produziert. Allein die Gründerväter der EU haben in ihrer Lebenszeit vier Kriege erlebt. Und alle Kriege waren nationalistische Einigungs- und Eroberungskriege. Der Nationalismus hat in seiner radikalsten Ausformung das größte Menschheitsverbrechen produziert - Auschwitz. Die einzige Möglichkeit, Europa nachhaltig zu befrieden, besteht darin, den Nationalstaat zu überwinden.

So weit sind die Gründerväter der EU nie gegangen. De Gaulle wollte ein Europa der Vaterländer.

MENASSE: Das stimmt so nicht. Man muss nur die Memoiren von Jean Monnet lesen: Die langfristige Perspektive war das Absterben der Nationen. Von Jean Monnet stammt auch das wunderbare Wort, dass man Solidarität nicht vertraglich vereinbaren, aber ökonomisch erzwingen kann. Und genau das geschieht über die Vergemeinschaftung Europas: Die Nationalstaaten geben Schritt für Schritt Souveränitätsrechte ab, verflechten ihre Ökonomien und können nicht mehr eigene Interessen gegen andere durchsetzen, ohne sich nicht selbst dabei zu schaden.

Wie erklären Sie sich dann die Renationalisierung in der Krise?

MENASSE: Ja, der Nationalismus fährt seine Krallen aus. Aber irgendwann ist das wie bei den Toten, bei denen noch die Fingernägel wachsen. Es ist gespenstisch, wie schnell in der Krise nationalistische und rassistische Ressentiments entstehen. Genau dagegen wurde das europäische Projekt gegründet.

Die Leute haben Sorge, mit ihrem Geld für die Misswirtschaft anderer geradestehen zu müssen.

MENASSE: Wenn einer in Österreich sagt, warum sollen wir für die Griechen zahlen, nicken alle. Ich habe noch keine Massenproteste gehört, weil die Republik Österreich mehr Geld an Kärnten überweisen muss, als sie für Griechenland an Bürgschaft zu stellen hat. Da sagt keiner: Kärnten muss raus aus Österreich!

Der Glaube, dass es ein österreichisches Wir gibt, ist eben stärker.

MENASSE: Mag sein! Und doch ist dieses Wir eine Fiktion, und als Wir gegen andere eine bedrohliche Fiktion. Mir kann keiner erklären, was nationale Identität konkret sein soll. Zum Beispiel die österreichische Nation: Sind die Gemeinsamkeiten zwischen Kärntnern und Oberösterreichern wirklich größer als die Gemeinsamkeiten zwischen Oberösterreichern und Bayern?

Wir teilen außer der gemeinsamen Sprache immerhin noch eine gemeinsame Geschichte.

MENASSE: Wir haben gemeinsame Geschichte mit vielen Ländern bis hin nach Galizien. Und obwohl die Habsburger länger römisch-deutsche Kaiser waren als Könige von Ungarn, sind wir keine Deutschen, mit denen wir die Sprache teilen und trotzdem nicht die Nationalität. Man kann das lange diskutieren. Aber es ist wie mit einer Zwiebel. Man kommt zu keinem harten Kern.

Hat nicht jeder Mensch ein Recht auf nationale Identität?

MENASSE: Die nationale Identität war für die Menschen lange eine zentrale Frage. Das war allerdings in einer Zeit, in der kollektive Identitäten, wie Sprache, Kultur, Religion, noch viel stärker waren als die individualistischen Lebenskonzepte heute, und die Heere die Einzigen waren, die kreuz und quer durch den Kontinent zogen. Die romantischen Grundlagen für eine Nation sind in Europa durch die Migrationsströme hinfällig geworden. In Berlin gibt es ganze Viertel, wo nur Türkisch gesprochen wird.

Warum glauben Sie, ein zentralistischer Monolith wie die EU könnte das Bedürfnis nach Identität besser stillen als die Nation?

MENASSE : Wer sagt, dass die EU ein zentralistischer Monolith ist oder werden soll? Im Lissabonvertrag ist das Subsidiaritätsprinzip festgeschrieben, das heißt ein Europa der frei assoziierten Regionen, die sich gemäß ihren Eigenarten und Bedürfnissen entfalten können. Jeder Mensch hat ein Menschenrecht auf Heimat. Diese Heimat liegt in einer Region, nicht in der Fiktion einer Nation. Ich bin Wiener, das prägt mich mehr als die Tatsache, dass ich denselben Pass wie ein Vorarlberger habe. Die Leute sehnen sich nach Identität? Sie haben eine! Die Politik muss es ihnen nur ermöglichen, in ihrer Heimat unter vernünftigen Rahmenbedingungen ihr Leben zu leben.

Tut das die EU?

MENASSE: Ich habe in Brüssel viele Leute kennengelernt, die dieses Europa schaffen wollen. Der Vorwurf, die EU-Beamten wollen zentralistisch den ganzen Kontinent regulieren, ist Unsinn. Wien ist überreguliert, aber 99 Prozent dieser Überregulierungen sind ein Produkt des Wiener Gemeinderats, nicht Folge von EU-Richtlinien. Na gut, die Wiener wollen das so, sie können nicht leben, ohne zu wissen, was erlaubt ist.

Was ist mit den Glühbirnen?

MENASSE: Politik ist menschengemacht, also fehleranfällig. Demokratie erweist sich nicht darin, dass keine Fehler gemacht werden, sondern dass man Fehler ausbessern kann.

In Österreich könnte man die Urheber immerhin abwählen.

MENASSE: Aber wo! In Österreich können Sie wählen, wen Sie wollen. 95 Prozent der Abgeordneten, die heute im Nationalrat sitzen, werden auch nach der Wahl wieder drinnenhocken. Vielleicht tauscht man die Parteiobmänner aus, aber im Grunde wird die Mehrzahl der Gesetze wie bisher einstimmig beschlossen werden, weil das die Sozialpartner so ausgehandelt haben. In Europa dagegen ist das anders.

Was ist in Europa anders?

MENASSE: Es gibt auch in der EU viele demokratiepolitische Defizite. Aber die Strukturen der EU sind noch nicht fertig. Alles ist im Fluss. Die österreichische Demokratie aber ist erstarrt. Die österreichische Verfassung ist eine Ruine. Die Kontrollrechte der Opposition, siehe U-Ausschuss, sind eine Farce. Landtagsabgeordnete ziehen aus Sitzungen aus, um Abstimmungen zu vermeiden. Aber in der EU passiert etwas Spannendes: die Entwicklung einer neuen, einer nachnationalen Demokratie. Wer in Europa die Dinge ändern will, hat noch eine Chance.