Rational betrachtet: Frisst oder schafft Digitalisierung Arbeitsplätze? Keine ganz neue Frage: Seit der Personal Computer ab 1984 global in den Büros Einzug gehalten hat, spalten sich die Geister. Von akuter Jobpanik bis zum Träumen vom Paradies für Werktätige reicht das Spek­trum. Tatsache ist: Nie zuvor waren etwa in Österreich so viele Menschen berufstätig wie heute, vor allem, weil der Dienstleistungssektor über die Maßen brummt.
Nun also die nächste digitale Revolution. Wieder warnen Apologeten des Weltuntergangs vor drohender massenhafter Vernichtung von Jobs. Und diesmal könnte an schrillen Kassandra­rufen tatsächlich etwas dran sein. Wurden bisher vor allem Stellen von Hilfsarbeitern und Pflichtschulabsolventen wegrationalisiert, trifft es nun auch Top-Ausgebildete, wenn diese quasi über Nacht von Computer-Algorithmen ersetzt werden.

Diese sind um Potenzen schlauer, schneller und präziser als ihre menschlichen Pendants. Einfach erklärt ist laut Wikipedia ein Algorithmus „eine eindeutige Handlungsvorschrift zur Lösung eines Problems oder einer Klasse von Problemen. Algorithmen bestehen aus endlich vielen, wohldefinierten Einzelschritten. Damit können sie zur Ausführung in einem Computerprogramm implementiert werden. Algorithmen sind heute im Auto (Stichwort teilautonomes Fahren) genauso im Einsatz wie bei der Analyse von Aktienmärkten. Und sie lernen stetig dazu, Stichworte: künstliche Intelligenz (AI), Machine Learning und Roboter. Freilich: Nicht jeder ist davon betroffen. „Es wird vermutlich große Unterschiede geben zwischen Aufgaben, die stärker durch Algorithmen ersetzt werden, und solchen, bei denen vor allem Menschen im Einsatz bleiben. Das ist so, seit wir Menschen Technologien entwickeln, die uns Arbeit abnehmen“, sagt Professor Heiko Breitsohl, Experte für Dienstleistungsmanagement an der Uni Klagenfurt.

Das jüngste Beispiel für den Tausch von Fachleuten gegen Algorithmen liefert Zalando. „Computer ersetzen über 200 Marketing-Mitarbeiter bei Zalando“, meldeten die Nachrichtenagenturen jüngst aufgeregt. Faktum ist: Der deutsche Online-­Gigant will stärker als bisher Algorithmen einsetzen, die auf der Basis gesammelter Daten Kunden gezielt ansprechen – besser, als es die 200 bis 250 Mitarbeiter im Marketing, die unter anderem Werbe-E-Mails versendeten, je könnten. „Wir wollen unseren 23 Millionen unterschiedlichen Kunden in Europa 23 Millionen unterschiedliche Zalandos anbieten“, erklärt Moritz Hahn, Senior Vice President Supply and Demand. Eine neue „Personalized Marketing-Abteilung“ mit Produktmanagern, Marketing-Domain-Experten, Softwareentwicklern sowie Daten und AI-Wissenschaftlern kümmert sich nun darum. Den bis zu 250 Marketing-Beschäftigten in Berlin werden hingegen Aufhebungsverträge angeboten. Bei Zalando betont man freilich, dass AI nicht das gesamte Marketing übernehme und sich „bei weniger als der Hälfte dieser Mitarbeiter die Jobprofile durch Tech-Innovationen ändern“.

Die Automatisierung hält auf vielen Kanälen Einzug, so helfen Chatbots und Sprachassistenten, Kunden besser zu erreichen, denn viele Verbraucher könnten heute, anders als vor ein paar Jahren, nicht mehr über Apps erreicht werden. „Distributed Commerce“ lautet das Zauberwort, viele Produkte werden von Verbrauchern auf sozialen Plattformen erworben. „Der Austausch ist weitaus individueller als früher.“ Für Breitsohl kommt das keineswegs überraschend: „Diese Marketingmitarbeiter lassen sich deshalb relativ leicht ersetzen, weil sie erstens zumindest teilweise mit Datenanalysen beschäftigt sind, was Algorithmen ohnehin besser können, und zweitens immer größere Datenmengen zur Verfügung stehen, was den Vorteil der Algorithmen noch verstärkt.“ Es werde noch einige andere Tätigkeiten geben, bei denen Algorithmen den Menschen eindeutig überlegen sein werden. Aber: „Es wird auch vorhandene oder neue Aufgaben geben, bei denen Menschen einfach bessere Leistung zeigen.“ Die Bedeutung künstlicher Intelligenz und des Machine Learning werde bei Zalando weiter wachsen. „Das schafft neue Stellen in anderen Bereichen“, meint man bei Zalando gegenüber der Kleinen Zeitung. Von den momentan 15.000 Mitarbeitern sind bereits 2000 im Tech-Bereich tätig. Um das Ziel, 20 bis 25 Prozent pro Jahr zu wachsen, auch 2018 erreichen zu können, werden zudem heuer weitere 2000 neue Mitarbeiter, vor allem in Berlin, eingestellt.

Schon jetzt arbeiten allein 600 Mitarbeiter daran, das Nutzererlebnis für die Präsentation der über 300.000 Artikel zu optimieren. Da werken Data Scientists, Wissenschaftler, Produktentwickler, Business-Analysten und Business-Integra­tion-Spezialisten in einem Team. Ziel sei es, größenbedingte – teure – Rücksendungen mit AI zu reduzieren. Mit dem von Stacia Carr, Head of ­Engineering & Sizing, ­geführten Team soll „die Größen­beratung noch ­smarter“ werden. Entwickler und Datenanalysten hätten eine glorreiche Zukunft vor sich.

Auch Breitsohl teilt den „Pessimismus nicht bzw. nur sehr wenig“. Denn dabei würden zwei Dinge vernachlässigt: „Zum einen entstehen bei jeder technologischen Veränderung auch neue Jobs, wie das Beispiel Zalando illustriert.“ Es finde also, zumindest teilweise, keine Vernichtung, sondern eine Verschiebung von Arbeitsplätzen statt. „Zweitens entstehen wahrscheinlich sogar neue Berufe, also neue Beschäftigungsmöglichkeiten, während andere verschwinden. Wie viele App-Entwickler gibt es auf der Welt? Und wie viele Peitschenhersteller?“ Die Frage sei also eher, ob wir es schaffen, etwa mit unserem Bildungssystem die technologische Entwicklung mitzuprägen und zum Wohle der Menschen zu gestalten.
So sieht man das wohl auch bei Zalando: „Me unlimited“ heißt der neue Slogan des Modegiganten. Der ist zwar auf Mode gemünzt, könnte aber auch auf die Entfaltung des Einzelnen im Berufsleben bezogen sein.

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