Wahr oder falsch? Noch nie war es so schwierig, sich ein Urteil zu bilden: Seitdem wir uns mit dem Begriff der Fake-News herumschlagen müssen, erlebt die Urteilskraft so etwas wie eine Renaissance. Was früher noch als verlässliche Informationsquelle galt, muss heute kritisch beäugt werden, geteilte Artikel auf Facebook dürfen nicht für bare Münze genommen werden. Doch wie trennt man Fake von Fakt?

Diese Frage beschäftigt die Menschheit nicht erst seit Kurzem – Historiker machen die Epoche der Frühen Neuzeit als die Zeitspanne fest, in der die Urteilskraft für den Menschen eine neue Bedeutung erlangt hat. Von Mitte des 15. bis hinein ins 19. Jahrhundert kamen Gedanken zur Individualität und zur freien Meinungsbildung auf, die starken Einfluss auf das hatten, was wir heute unter Urteilsvermögen verstehen.

Ein Forschungsprojekt an der Uni Klagenfurt will die Entstehung des Urteils-Begriffs nun nachzeichnen – auch, um Erkenntnisse für die Gegenwart daraus zu ziehen. „Wir wollen aus historischer Sicht beleuchten, wie unsere heutige Urteils- und Expertenkultur entstanden ist. Daraus können wir vieles lernen, das unsere gegenwärtigen Entscheidungsprozesse unterstützen kann“, sagt Susanne Friede. Die Professorin am Institut für Romanistik ist Teil eines interdisziplinären Teams aus Historikern, Literaturwissenschaftlern und Philosophen, das sich der Erforschung der Urteilskraft verschrieben hat.

„Judgment“ lautet der englische Begriff für Urteil, den die Wissenschaftler bewusst wählten, um Anschluss an die internationale Forschungsgemeinschaft zu finden. Ziel des Projekts ist eine grenzüberschreitende Plattform, um die sich etablierende Frühneuzeit-Forschung zu vernetzen und voranzutreiben. „Gerade in Österreich gibt es viel Kompetenz für diese Epoche, die wollen wir sichtbar machen und bündeln“, sagt Friede. Zur Erforschung der Urteilskraft möchte sie in Zukunft auch andere Disziplinen einbinden, wie Medienwissenschaft oder Ökonomie – schließlich hätten gerade in jüngerer Vergangenheit verheerende Entscheidungen in der Wirtschaft gezeigt, wie wichtig funktionierende Urteilskraft sein kann.

Fünf Jahre hat das Team rund um Friede für die Forschungsarbeit Zeit, ein für Uni-Verhältnisse komfortabler Zeitraum. Das Projekt beinhaltet Stipendien, die an Nachwuchswissenschaftler vergeben werden. Im Wintersemester startet ein Doktoratsseminar, bei dem sich angehende Forscher schon einmal ein Urteil über das Projekt bilden können.