Alle sprachen immer vom „Grünen Paradies“. Eva konnte das nicht mehr hören. Immerhin war sie jahrelang für die Pflege dieses sogenannten „Paradieses“ zuständig, während sich Adam um die Kinder kümmerte. Garten Eden, jaja, schön und gut. Zuerst muss man jahrelang schinden, bis endlich etwas wächst, und alles natürlich ohne Kunstdünger, alles bio, und schlussendlich wächst einem alles über den Kopf. Noch dazu musste, da es sich um einen Gemeinschaftsgarten handelte, alles mühsam mit den Genossenschafter*innen ausverhandelt werden. Jedem Spatenstich, jedem Setzling, jedem Abzwicken eines noch so kleinen Ästchens gingen nervenaufreibende, stundenlange basisdemokratische Diskussionen voraus. Die ödeste Debatte war in Evas Erinnerung jene, ob fleischfressende Pflanzen aus veganer Sicht moralisch vertretbar wären. Die zweit-ödeste jene, ob man einen Damenpilz züchten sollte, da man die alleinige Existenz des Herrenpilzes nicht gendergerecht fand. Wie meist, gab es auch bei diesen Debatten kein Ergebnis, sondern ein vielseitiges Positionspapier, verbunden mit der Gründung von immer neuen Arbeitsgruppen. Die eigentliche Gartenarbeit blieb dabei auf der Strecke.

Am Schluss war der stetig wachsende Dschungel fast nicht mehr in den Griff zu kriegen. Man beschloss, das dann „Biodiversität“ zu nennen, aber Eva wurde es langsam zu viel: diese vielen seltsamen Blüten, eingeschleppte Neophyten, die keiner kannte, dann das viele stachelige Zeugs, Schlingpflanzen, schön aussehende, aber giftige Beeren, heimtückische Kakteen ... so eine Flora ist ja nicht nur nett, die kann auch richtig bösartig sein. Eva hatte manchmal schlimme Träume, von Unkrautvernichtungsmitteln, Rodungsgenehmigungen und Motorsägen. Davon konnte sie aber niemandem erzählen. In diesem Punkt waren die Genossenschafter*innen humorlos, da hatten sie eine Unverträglichkeit.

Eva wusste, dass sie es ohnehin niemandem rechtmachen konnte, daher versuchte sie, es allen ein bisschen rechtzumachen, womit sie es erst recht niemandem so richtig rechtmachen konnte. Evas Körper begann eigenartig zu reagieren, wenn sie durch den Garten ging. Mal bekam sie asthmatische Anfälle, mal tränten Nase und Augen, mal bekam sie einen Nesselausschlag, mal schwoll ihr Gesicht an. Dabei war doch alles bio! Keine Chemie und keine Gentechnik weit und breit, und trotzdem ... waren es die Pollen der seltsamen Blüten? Reizten sie die feinen Härchen der eingeschleppten Exoten? Oder war es womöglich dieser sonderbare Pilz? Zuerst schenkte sie ihm keine Beachtung, doch dann begann er sich auszubreiten und wurde zum Problem im Grünen Paradies. Zu allem Überfluss hatte sie auch noch mit einer Schlangenplage zu kämpfen. Da der Garten unter Naturschutz stand und die Genossenschafter*innen keinerlei Maßnahmen gegen die Schlangen erlaubten, vermehrte sich die Brut ungehemmt.

Eva hatte die Nase wortwörtlich voll. Sie spürte plötzlich eine unbändige Lust auf einen dieser Bio-Äpfel da oben am Baum, obwohl sie wusste, dass er möglicherweise eine Kreuz-Allergie auslösen könnte. Sie biss hinein, und der süßliche Saft tat ihr so gut. Obwohl es die Anti-Korruptionsrichtlinien im Gemeinschaftsgarten eigentlich nicht gestatteten, nahm sie sich noch einen Apfel. Ein wenig schämte sie sich, doch der saftige Genuss war stärker. Noch im Kauen reifte in ihr die Erkenntnis, dass sie den Garten verlassen würde, und zwar bald. Sie hatte genug vom Pflanzen. Nun war die Zeit der Ernte gekommen. Konnten Äpfel berauschende Wirkung haben? Eva lachte wie irr. In ihrem Kopf flirrten Namen herum, drehten sich wie die Symbole auf einarmigen Banditen. Monsanto. Shell. Goldman Sachs. Nestlé. Glock. Novartis. Barclays Capital. Tepco. Gazprom. Novomatic. Hauptgewinn. Eva hatte zwei Äpfel in den Augen. Nun setzte der allergische Schub ein und ließ ihr Gewebe anschwellen. Es war ihr egal. Das Fläschchen mit den Notfallsglobuli warf sie weg. Sie lächelte geheimnisvoll, drehte sich um, nahm sich ein Feigenblatt von einem Baum und ging hinaus aus dem Garten, hinein in eine Welt, die ihr so groß und verführerisch erschien. *Christian Hölbling ist Künstler und Kabarettist

Die ödeste Debatte war in Evas Erinnerung jene, ob fleisch- fressende Pflanzen aus veganer Sicht moralisch vertretbar wären.