Der lederne Rücksitz im nagelneuen 7er-BMW fühlte sich gut an. Wann hatte man schon die Gelegenheit, in einem 190.000-Euro-Auto chauffiert zu werden? Der Bürgermeister wählte die Rückenmassage-Funktion auf dem Touchpad seiner Armablage. Unsichtbare kleine Hände drückten ihn einmal hier und einmal dort und versüßten ihm so die Fahrt zum sündteuren Seerestaurant, das er privat nie aufsuchen würde. Aber gegen eine Einladung war natürlich nichts zu sagen. Auf den elegant gedeckten Tischen glänzten die Weingläser in der Abendsonne. Der See zeigte sich von seiner schönsten, azurblauen Seite. Was für ein Privileg, hier zu leben!

Der Bürgermeister sah einige bekannte Gesichter beim Business-Talk an den Tischen; er begrüßte den Wirtschaftskämmerer, die Vorständin der Regionalbank, den Uhrenfabrikanten mit Gattin und, natürlich, den „Regisseur“, der mit dem Motorboot der Milliardärin angelegt hatte. So richtig gehörte der Bürgermeister nicht zu dieser Society.

Die meisten Leute hier verdienten ein Vielfaches von ihm selbst, das wusste er. Aber irgendwann brauchten sie etwas von ihm, das wusste er auch. Und das war sein Kapital. Er ging zum Tisch direkt am Wasser, an dem der Baumeister mit seinem Assistenten auf ihn wartete. Man kannte sich bereits von vergangenen Bauvorhaben, die alle klaglos abgewickelt werden konnten. Der Verkauf der Apartments lief prächtig.

Einzig bei einer etwas heiklen Umwidmung in einem Naturschutzgebiet gab es ein paar lästige Fragen im Gemeinderat, die der Bürgermeister aber mit der nötigen Eloquenz abschmetterte. Immerhin hatte man im Gemeindevorstand schon alles ausgemacht, da war der Gemeinderat nur noch eine Formsache. Händchen heben und fertig. Damals, als es um den Abbruch eines historischen Hauses ging, wo im Jahre Schnee irgend ein berühmter Komponist Krebse aß, hätte er mehr Gegenwind erwartet, aber das interessierte erstaunlicherweise niemanden im Gemeinderat. Kultur kann man nicht essen, pflegte der Baumeister zu sagen, und der Bürgermeister sah das genauso. Der Baumeister mochte nicht Baumeister genannt werden. Lieber schon nannte er sich „Investor“ oder „Immobilienentwickler“. Freilich kam ihm seine berufliche Herkunft zugute, denn das Baugewerbe ist kein Mädchenpensionat, und bei der Immobilienentwicklung am See war übertriebene Feingeistigkeit unangebracht. Die örtlichen Politiker waren nie das Problem, von einigen grünen Schreckschrauben vielleicht abgesehen. Schlimmer waren die Wichtigtuer und Querulanten: Wut-Omas, die mit Unterschriftenlisten die Nachbarschaft rebellisch machten. Tourismus-Fuzzis, die von „kalten Betten“ schwafelten. Asoziale, die meinten, es stünde ihnen zu, ihren Arsch immer und überall ohne Gebühr in den See zu tauchen. Von wegen „freier Seezugang für alle“ und ähnliche linke Spinnereien. Sogenannte Umweltschützer, die Gestrüpp und Ungeziefer schöner fanden als gepflegte Apartmentanlagen. In Wahrheit, sagte der Investor zum Bürgermeister, ist es immer das Gleiche: Es ist der Neid auf jene, die sich eben die 6000 Euro pro Quadratmeter leisten können und wollen. Und wenn die nur zwei Wochen im Jahr da sind - na und? Ist doch ihre Sache. Wir leben in einer freien Marktwirtschaft.

Der Bürgermeister stimmte ihm zu, wenngleich auch in seiner Gemeinde die Stimmen gegen das hemmungslose Zubetonieren des Sees lauter wurden.

Natürlich war der See heute nicht mit dem See seiner Kindheit zu vergleichen, als er mit den anderen Buben im Schilf Pirat spielte und mit einem alten Ruderboot die Insel eroberte. Aber konnte er den Lauf der Zeit aufhalten? Er als oberste Baubehörde im Ort? Sich den guten Argumenten des Investors widersetzen? Noch dazu, wo diese Argumente vom Assistenten stets mit viel Papier untermauert wurden. Aus dem Kuvert, beim Vieraugengespräch. Und das soll ihm mal einer nachweisen, dass in diesem Kuvert irgendetwas anderes drin war als Baupläne.

Alle handelnden Personen und Umstände sind völlig frei erfunden. Ähnlichkeiten sind rein zufällig und total unbeabsichtigt.