Unsere galaktische Nachbarschaft sieht in 3D anders aus als bisher angenommen. Astronomen der Unis Wien und Harvard berichten im Fachjournal "Nature" über die Entdeckung einer riesigen, gashaltigen, wellenförmigen Struktur ober- und unterhalb der galaktischen Scheibe. Diese "Radcliffe-Welle" revolutioniert die bisherige Vorstellung eines ringförmigen "Gouldschen Gürtels" rund um das Sonnensystem.

Mitte des 19. Jahrhunderts entdeckten und untersuchten der britische Astronom John Herschel und sein US-Kollege Benjamin Gould einen Ring heller Sterne, der nicht in der Ebene der Milchstraße, sondern geneigt dazu liegt. Von der "Gouldscher Gürtel" (Gould Belt) genannten Struktur weiß man, dass es sich um eine großräumige Ansammlung junger Sterne und Sternentstehungsgebiete handelt.

Bereits 2015 fertigte ein internationales Astronomenteam, dem auch Joao Alves vom Institut für Astrophysik der Universität Wien angehörte, mit Daten des ESA-Satelliten "Hipparcos" eine dreidimensionale Karte eines bestimmten Sternentyps in der Milchstraße an. Und schon damals vermuteten sie, dass der "Gould Belt" nur eine optische Täuschung sei.

Detaillierte 3D-Karte

Alves hat von 2018 bis 2019 als Fellow am Radcliffe Institute for Advanced Study der Harvard University (USA) mit Kollegen Daten des europäischen Weltraumteleskops "Gaia" ausgewertet und mit anderen Messungen verglichen. "Gaia" vermisst als Nachfolgemission von "Hipparcos" präzise die Position, Entfernung und Bewegung von Sternen. So erstellten die Wissenschafter eine detaillierte 3D-Karte der interstellaren Materie in der Milchstraße und stießen dabei unverhofft auf eine riesige Struktur in unmittelbarer Nachbarschaft des Sonnensystems.

Dieses wellenförmige Gebilde hat eine Länge von ungefähr 9.000 Lichtjahren und eine Breite von nur 400 Lichtjahren. Es erstreckt sich bis zu 500 Lichtjahre oberhalb und unterhalb der Mittelebene der Galaxienscheibe und umfasst viele jener Sternentstehungsgebiete, die bisher dem Gouldschen Gürtel zugeordnet wurden.

Den Astronomen zufolge handelt es sich um die größte jemals beobachtete gashaltige Struktur in unserer Galaxie. Sie gaben ihr den Namen "Radcliffe-Welle". "Die Sonne ist nur 500 Lichtjahre von der Welle entfernt. Sie war die ganze Zeit direkt vor uns, aber wir konnten sie bisher nicht sehen", erklärte Alves in einer Aussendung der Uni Wien.

"Geschockt"

"Niemand hätte erwartet, dass wir in der Nähe einer riesigen, wellenartigen Gasansammlung leben", erklärte Alyssa Goodman, Leiterin des Science Program am Radcliffe Institute. "Wir waren geschockt als wir zum ersten Mal erkannt haben, wie lange und gerade die Radcliffe-Welle von oben in einer 3D-Ansicht ist, und wie sinusförmig sie von der Erde aus betrachtet im Vergleich wirkt.

Die Astronomen müssen jedenfalls ihr Verständnis von der 3D-Struktur der Milchstraße überdenken. Die Erkenntnisse bedeuten auch das Ende für den Gouldschen Gürtel. "Dass diese Struktur nur ein Projektionseffekt war, ist eine kleine Sensation", so Mitautor Stefan Meingast von der Uni Wien.