Herr Horx, im März verfassten Sie für unsere Zeitung einen Text mit dem Titel "Ruhig Blut! Musik auf den Balkonen! So geht Zukunft!" Wie fällt Ihre Bilanz nach einem Jahr Pandemie aus? Wie ruhig ist das Blut der Österreicher – wem ist noch nach Musik auf Balkonen?
MATTHIAS HORX: Mein März-Text mitten in der ersten großen Coronapanik war eine Ermutigung. Deshalb ist "Bilanz" vielleicht der falsche Ansatz. Ich habe darauf hingewiesen, dass existenzielle Krisen Widerstandskräfte im Menschen hervorrufen, Wendungen von Gemeinsamkeit und Zuversicht möglich machen. Ohne Zuversicht gibt es keine Zukunft. Das würde ich auch heute noch so formulieren – sogar noch dringlicher: Wir Menschen sollten uns vor dem Immer-schlimmer-Reden hüten!

Wie viel Geduld und Zuversicht können wir noch aufbringen?
HORX: Es wird immer Menschen geben, die die Geduld verlieren, mit der Bedrohung überfordert sind und wütend herumschreien. Auch das ist menschlich. Im Grunde haben die Menschen in der ganzen Welt sich unfassbar diszipliniert verhalten, angesichts einer sehr stressreichen Bedrohung. Ausnahme: vielleicht die USA. Jetzt leuchtet da langsam ein Licht am Ende des Tunnels.

Wechselten wir von der Schockstarre der ersten Monate in eine eher diffuse Lethargie, in eine bange Hoffnungslosigkeit?
HORX: Ja, vielleicht. Aber vielleicht kommt auch wieder eine Wende zum Konstruktiven.

Trend-und Zukunftsforscher Matthias Horx
Trend-und Zukunftsforscher Matthias Horx © Horx



Verzicht muss stattfinden, soziale Distanz ist geboten: War die Pandemie in der Geschichte der vielleicht erste kollektive Moment, in dem Technologie genutzt wurde, um Mensch zu bleiben bzw. lebensnotwendige soziale Kontakte zu erhalten?

HORX: Zumindest waren wir nicht mehr ganz so hilflos wie unsere Vorfahren, die bei Pandemien immer ein Gottesgericht erlebten. Kommunikationstechnik und Mikrobiologie (Stichwort: Impfung) haben Menschen geholfen, eine schwere Krise nicht zu einer Megakatastrophe werden zu lassen. Zivilisation ist resilienter, als wir dachten. Darauf könnten wir auch mal stolz sein, anstatt nur zu klagen.

Kam es indirekt tatsächlich zu einem engeren Zusammenrücken? Was nehmen wir davon mit, können wir Abstand und Maske einmal wieder ablegen?
HORX: "Wir Menschen sind die Wesen, die Abstand nehmen können, um uns so mit anderen über sich selbst zu verständigen2 – ein Zitat von Hans Jonas (deutsch-amerikanischer Philosoph, Anmerkung). Wir werden Abstände auch in Zukunft beibehalten, aber uns auch auf neue Weise verbinden. Nach allen Pandemien kommt es zu einer kulturellen Umordnung, zu sozialen Differenzierungen, die aber auch oft den Geist einer neuen Ära brachten. Nach der Pest kam die Renaissance, nach der Cholera der Umbau der Städte in Richtung auf bessere Urbanität. Corona wird beispielsweise Städte stark verändern, sie grüner, flexibler, sozial intelligenter machen.

Was ist aber mit dem Konsumverhalten? Fand wirklich ein Sinneswandel in Richtung Regionalität und Saisonalität statt? Immerhin verdient sich gerade der Amazon-Krake in der Krise einen weiteren goldenen Daumen. Sieht Homo sapiens die Globalisierung heute anders – nämlich auch als eine potenzielle Überbringerin von Pandemien?
HORX: Es werden vielleicht nicht alle Menschen ihr Konsumverhalten ändern, und manche werden wohl auch eine Art "Nachhol-Konsumrausch" absolvieren. Aber die Weichen stellen sich deutlich anders: Die Turboglobalisierung der letzten 30 Jahre ist vorbei. Die Veränderungen beim Konsumverhalten, die wir in den letzten Jahren schon erlebt haben, werden sich stark beschleunigen. Ganze Zweige werden sich ökologisch transformieren: Fleisch- und Lebensmittelbranche, Reiseindustrie, Mobilität, Modebranche – und der Flugverkehr wird wohl nie mehr so rasend wachsen wie zuvor. Es wird unfassbar viele Marktverschiebungen geben, weil Corona gewaltige Disruptionen brachte.



Homeoffice – 2020/2021 und wohl auch weiter eine maßgebliche Säule des Arbeitslebens: Das Virus als Katalysator, der auch Arbeitgeber überzeugen konnte?
HORX: In der Arbeitskultur wird sichtbar, wie eine Krise lange fällige Entwicklungen zum Durchbruch führt. Auch die Firmen wollen heute mehr „Hoffice“ - also Homeoffice, nicht zuletzt aus Kostengründen. Dieser „Work Change“ wird zu einer generellen Durchlüftung alter Arbeitsformen führen – weg von Präsenzpflicht und dem gewohnten Acht-Stunden-Tag.

"Könnte es sein, dass das Virus unser Leben in eine Richtung geändert hat, in die es sich sowieso verändern wollte?", schrieben Sie im März. Ihr Befund heute?
HORX: Um nachhaltige Änderungen festzustellen, ist es noch zu früh, dafür muss ja erst wieder Bewegungsfreiheit herrschen. Aber es ist ja schon lange klar, dass wir mit dieser ewigen Überbeschleunigung und unintelligenten Konsumform im "Alten Normal" nicht mehr klarkommen. Die wirklich großen Zukunftsfragen – Wie wollen wir leben?, Wie können wir unser Naturverhältnis befrieden? – sind noch viel, viel dringender geworden. Rainer Maria Rilkes "Du musst dein Leben ändern" ist aktuell wie nie. Wenn Menschen auf diese Weise durchgeschüttelt werden, kehren sie nicht so einfach zu alten Routinen zurück. Das verändert Sichtweisen, Werte, Weltbilder. Wir sind alle durch eine Phase tiefer Verunsicherung und Verletzlichkeit gegangen. Ich erlebe Menschen, die aus dieser Erschütterung ihr Leben ändern, es verbindlicher und "wahrer" machen.

"Jede Tiefenkrise hinterlässt eine Story, ein Narrativ, das weit in die Zukunft weist" – ist das so?
HORX: 2020 wird aus der Zukunft ein Wendejahr sein, ein "Tipping Point" der Geschichte. Es ist das Jahr, in dem die Welt ernsthaft Kurs auf eine erneuerbare, postfossile Kultur und Wirtschaft nahm. Der Wandel kommt allerdings nicht dadurch zustande, weil alle plötzlich "grün geläutert" sind und Verzicht üben, sondern weil die Wucht der Ereignisse uns in diese Richtung zwingt. Corona hat uns gezwungen eine Realität anzuerkennen, die wir lange ausblendeten. Das war schockierend, aber Wahrheit ist stets – auch – befreiend.

Wie schwer/einfach wird es den Menschen fallen, sich noch weiter zu gedulden? Werden der Rückgang der Zahlen, das Greifen der Impfungen und – darauf gründend – die Rücknahme der Maßnahmen von den Menschen als Erlösung wahrgenommen?
HORX: Es wird schwerfallen, denn es geht nur in kleinen Schritten. Aber irgendwann wird sich auch Erleichterung breitmachen, ein Gefühl von gemeinsamer Heilung, von Neubeginn. Sagen wir: im heurigen April.

Stärkte das Krisenmanagement der Politik das Vertrauen der Bürger oder setzte sie nach ihren Fehlern der ohnehin vorhandenen Kritik noch einiges hinzu? Kann die Bundesregierung 2021, das weit in das Jahr hinein von dem Virus geprägt wird, noch auf breiten Rückhalt bauen?
HORX: Es gab in den meisten Ländern noch nie so viel Zustimmung zur Regierung und den Institutionen – auch wenn in vielen Medien das genaue Gegenteil behauptet und immer nur über den Streit und die Verweigerer berichtet wird. Die Rolle eines wirksamen und entschlossenen Governments ist auf drastische Weise deutlich geworden. Die allermeisten Menschen empfinden das so. Die große Staatsverachtung, wie sie ja auch der Populismus so gerne pflegt, ist demzufolge vorbei.

Rechnen Sie mit einen veränderten "Post-Corona"-Menschen?
Horx: Menschen bleiben immer Menschen. Aber sie entwickeln sich über die Zeit, über die Zivilisationen, und vor allem auch über Krisen. Meine Aufgabe als humanistischer Zukunftsforscher sehe ich darin, die Zukunft als einen Möglichkeitsraum darzustellen. Wir gestalten sie, indem wir uns bewusst für sie entscheiden, im Sinne eines Besseren, Humaneren. Damit überwinden wir auch die Angst vor der Zukunft – mit Musik von den Balkonen!