Die Coronalage in Schweden liegt irgendwo zwischen gut und durchwachsen. Statt der Politiker bestimmt Staatsepidemiologe Anders Tegnell mit seinem Gesundheitsamt die Strategie. Auf die Frage, ob es in Schweden mit seinem lockeren Sonderweg ohne Lockdown, Masken, Verbote, dafür aber mit weichen Empfehlungen, eine zweite Coronawelle gibt, antwortet Tegnell mit einem knappen "Nein". Doch stimmt das? Schweden wurde monatelang von internationalen Medien und einzelnen Experten scharf für seinen Weg kritisiert, während im Land selbst die Mehrheit hinter der Strategie steht. Doch inzwischen erwägen auch andere Länder, die in eine zweite Welle rutschen, das Modell nachzuahmen, statt nach Lockerungen in den zweiten Lockdown zu gehen. Denn das schonte die Binnenwirtschaft, wie neue Zahlen und Quartalsberichte zeigen.

Viele Schweden hielten sich zudem an die weichen Empfehlungen, soweit es eben möglich ist, daheimzubleiben und im Homeoffice zu arbeiten, vor allem, wenn man sich krank fühlt. U-Bahnen, Geschäfte, Bars und zentrale Stadtteile in der Hauptstadt Stockholm waren zeitweise gespenstisch leer. Während Schulen bis zur 10. Schulstufe offen blieben, sind Schulen ab der 10. Klasse und Universitäten frühzeitig auf Fernunterricht umgeschwenkt.
Arbeitskräfte, die sich krankmelden, erhalten 80 Prozent des Gehaltes. Während der Pandemie brauchten sie dafür nicht einmal ein Attest vorlegen. Im Grunde hat Schweden so einen weichen und freiwilligen Lockdown durchgeführt. Damit die Menschen das auch längerfristig psychisch durchhalten und nicht nach den ersten Lockerungen bei einem Total-Lockdown unvorsichtig werden – so die Idee vom Gesundheitsamt.



"Das Umdenken im Ausland über die schwedische Strategie von sehr kritisch zu mehr Verständnis hat natürlich mit unseren guten und stabilen Zahlen zu tun", sagt Anders Tegnell im Interview mit der Kleinen Zeitung. "Wir haben den richtigen Weg eingeschlagen. Die Pandemie hat sich drastisch vermindert bei uns während der letzten Monate, viel schneller, als wir dachten. Auch unser Gesundheitssystem war nie überlastet. Nun gehören wir zu den Ländern in Europa mit der geringsten Streuung", sagt er.

Staatsepidemiologe Anders Tegnell
Staatsepidemiologe Anders Tegnell © (c) AFP (ANDERS WIKLUND)



Dennoch steigen die Neuinfektionen wieder an, wenn auch auf geringerem Niveau als etwa in Österreich. "Die Steigerung in Schweden ist weniger dramatisch als in vielen anderen Ländern", sagt Tegnell. "In Schweden haben wir zudem von 30.000 bis 40.000 Tests im März und April auf derzeitig 140.000 hochgefahren. Das ist natürlich eine Ursache für die Steigerung in Schweden", so Tegnell.
"Die relativ langsame Entwicklung in Stockholm verglichen mit Madrid, Paris und Mailand deutet darauf hin, dass wir eine höhere Immunität haben", sagt Tegnell. "Wir glauben, zwischen 20 und 40 Prozent Immunität in der Bevölkerung in Stockholm zu liegen." Auch andere Experten sehen noch keine zweite Welle, wie Gunilla Karlsson Hedestam, Professorin für Immunologie: "In Schweden sieht es nicht so aus. Es steigt eher sanft an. In Spanien, Deutschland und Großbritannien gehen die Kurven deutlich steiler nach oben."

Doch ist wirklich alles so rosig? Zumindest zu Beginn der Pandemie schützte Schweden seine Altenheime nicht richtig. Dadurch starben relativ zur Bevölkerungszahl viel mehr Personen als in den skandinavischen Nachbarländern. Auch, wenn die Todesrate danach stark sank, sind 5929 Schweden an Corona gestorben, die meisten davon waren über 80 Jahre alt. Allerdings gab es Lockdown-Länder, in denen es mehr Tote im Vergleich zur Gesamteinwohnerzahl gab, betont das Gesundheitsamt.

Tegnell hält seine Strategie nicht für verantwortlich für den Infektionsschutz in Altersheimen, "der eigentlich immer funktionieren muss, auch wenn es keine Pandemie gibt". Vor allem Demenzkranke gelten als äußerst anfällig für Infektionen. Kritiker meinen hingegen, dass Tegnells Gesundheitsamt den rechtzeitigen Schutz der Altenheime verschlafen habe. Unklar blieb nur, ob bereits sterbenskranke Personen an Corona oder ihrer Grundkrankheit gestorben sind. Ein Faktor für die hohe Todeszahl sei laut neuen Erkenntnissen die milde Grippewelle 2019. Viele alte und kranke Menschen gehörten zu den ersten, die während einer gewöhnlichen, härteren Grippewelle sterben würden. Weil diese Grippewelle in Schweden milder verlief als in anderen EU-Ländern, seien diese Menschen stattdessen 2020 im Zusammenhang mit Covid-19 gestorben, so Tegnell.

Nun allerdings steigen die Infektionszahlen wieder und beunruhigen die Bevölkerung. Es sind vor allem jüngere Schweden, die sich bei sozialen Aktivitäten anstecken, zumeist aber milde Symptome aufweisen, weshalb Todesrate und Anzahl von Intensivpatienten weiterhin niedrig sind. So ist die für ihre Erstsemesterpartys berüchtigte Studentenstadt Uppsala einer der aktuellen Hotspots. Zwar wurden keine Verbote ausgesprochen, aber dringliche Empfehlungen, etwa den Nahverkehr nicht zu nutzen. Doch auch hier besteht keine Maskenpflicht. Gleiches gilt für den südschwedischen Hotspot Skåne.

Bislang bleibt alles freiwillig. Doch Tegnell schließt nicht aus, dass bei entsprechender Entwicklung neue Maßnahmen ergriffen werden könnten. Er bleibt aber vage. Diese Woche will das Gesundheitsamt voraussichtlich gelockerte Empfehlungen für Menschen ab 70 verkünden, weil viele unter der Isolation leiden. Von Verboten ist dennoch keine Rede. Der optimistische Plan, die Personengrenze bei öffentlichen Veranstaltungen von 50 auf 500 zu erhöhen, wurde dennoch zunächst auf Eis gelegt. Die Regierung will Gesetze ratifizieren, die ihr bei der Pandemie mehr Handlungsmöglichkeiten geben würden.