Gäbe es am Balkan die Ode an ein Ding, wäre sie dem Blutdruckmesser gewidmet. Fast jeder Haushalt hat einen. Generationenübergreifend, abgewandert oder nicht. Wie er dort hinkam, ist nicht so klar. Für die meisten hat das Gerät jedenfalls eine besondere Bedeutung. Es ist nicht nur dafür da, die Druckwellen in der Ader zu messen. Vielmehr ist es ein Detektor, um Krankheiten zu erkennen.

Der Blutdruckmesser wird angelegt, wenn Kopfschmerzen plagen, sich Schwindel ankündigt, die Nase rinnt oder Schlaflosigkeit quält. Die Messergebnisse sind die entscheidende Basis, um eine genaue Diagnose zu stellen. Wer nach "mjerenje pritiska, Balkan", "Blutdruck messen, Balkan", sucht, stößt irgendwann auf einen Kommentar aus dem Jahr 2016: "Würde ich mir den Arm brechen, würde man mir zuerst den Blutdruck messen", schreibt ein Nutzer auf der serbischen Online-Plattform Vukajlija.

Im Lexikon, vergleichbar mit dem englischen Urban Dictionary, dem Duden für Umgangssprache, wird Blutdruckmessen als "Lieblingsbeschäftigung von Familien und Nachbarn" beschrieben. Das zeigen auch Videos auf TikTok, wo der Mythos von der Vorliebe zum Messen viral geht. Eine persönlich durchgeführte Befragung von Freunden und Familienmitgliedern bestätigt das: Der Großteil besitzt ein Blutdruckmessgerät. Und benutzt es regelmäßig.

Ungewöhnliche Nierenerkrankung

Der Grund, warum Bluthochdruck neben "promaja", der Zugluft, zur gefürchtetsten Krankheit am Balkan gehört, ist möglicherweise in der Geschichte zu finden. Von 1950 bis 1970 erkrankten Hunderttausende an der sogenannten Balkan-Nephropathie, "einer Nierenerkrankung, bei der sich die Zellen der Niere entzünden. Sie sind unter anderem dafür zuständig, dass Schadstoffe über den Harn aus dem Körper ausgeschieden werden", erklärt Nephrologin Kathrin Eller. Das Ungewöhnliche: "Niere und Blutdruck hängen immer zusammen. Während bei anderen Nierenkrankheiten der Bluthochdruck bereits am Anfang ein klassisches Symptom ist, steigt bei der Balkan-Nephropathie der Blutdruck erst dann, wenn es für viele Betroffene schon zu spät ist." Am häufigsten verbreitet ist die Krankheit in Bosnien-Herzegowina, Kroatien und Serbien, zum Teil in den Donauländern Rumänien und Bulgarien.

Giftiges Unkraut

Das Nierenversagen ist nicht, wie lange vermutet, auf ein genetisches Phänomen zurückzuführen, sondern auf die Osterluzei. Die Wurzeln des Unkrauts, auch Biberkraut genannt, enthalten sogenannte Aristolochiasäuren, ein Nierengift. "Viele der Bauern hatten damals keine Traktoren und mussten mit Tieren pflügen. Die Pflüge reichten aber nur maximal 20 Zentimeter tief in die Erde, der Wachstumszone. Das hat dazu geführt, dass sich die Osterluzei vermehrt hat", erklärt Botaniker Christian Berg. Das Unkraut wuchs zwischen den Getreidepflanzen. Bei der Ernte wurde es mitverarbeitet, gelang ins Mehl, später ins Brot. "Die Folge war eine chronische Vergiftung", sagt Eller. Und weil die Dosis das Gift macht, waren Erwachsene häufiger betroffen als Kinder. Sie aßen in der Regel mehr vom Brot. Dass die Verbreitung der Balkan-Nephropathie auf die giftige Osterluzei zurückzuführen ist, fanden Forscherinnen und Forscher erst 2007 heraus, im Rahmen einer toxikologischen Studie. Heute sollen rund 25.000 Menschen am Westbalkan an der ungewöhnlichen Nierenerkrankung leiden. Mit dem technischen Fortschritt in der Landwirtschaft wurde die Osterluzei auf den Ackern zur Gänze ausgerottet. Geblieben ist der Mythos. Und die Liebe zum Blutdruckmessen.