"Jede Woche sterben in diesen Vierteln junge Menschen durch den Kugelhagel von Kalaschnikows", erzählt Michel B.* Als Sozialarbeiter kennt er die Gegend und hilft jungen, oft verzweifelten Menschen Arbeit zu finden. Damit ihnen das Schicksal derjenigen erspart bleibt, die angelockt von der Versuchung des schnellen Geldes in die Fänge der Drogenbanden geraten, die hier ganze Viertel kontrollieren. Sogenannte "Shoufs" werden von den Banden als bezahlte Wachposten an den Straßenecken abgestellt. Der Suchtgifthandel auf offener Straße gehört hier zum Alltag der Menschen, die jeden Tag um ihr Überleben kämpfen müssen. Ihr Alltag ist geprägt von Armut, Arbeitslosigkeit und Zukunftsängsten.

Zwischen Provence-Idylle und Ghetto-Gesetzen

Marseille ist die zweitgrößte Stadt Frankreichs, mehr als 1.800.000 Menschen leben im Einzugsgebiet. Die Stadt liegt am Mittelmeer, mitten in der Provence. Nur zwei Stunden Autofahrt entfernt tummeln sich die Reichen und Schönen im Luxus-Badeort Saint Tropez. Im Landesinneren besuchen Touristen im Sommer blühende Lavendelfelder. Mit der Provence-Romantik hat Marseille nur teilweise zu tun – die Viertel im Norden sind ein brandgefährliches Pflaster.

Allein heuer wurden bereits 13 junge Menschen in Bandenkriegen getötet. Letztes Wochenende wurden drei Menschen erschossen, ein Dutzend verletzt. Nicht alle Stadtbewohner wollen das wahrhaben, denn Marseille ist zweigeteilt. Es ist der Ort mit der größten sozialen Ungleichheit in Frankreich. "Dass in Frais-Vallon zwei- bis drei Kilo schwere Ratten am Fuße von Gebäuden gedeihen und Kinder mit ihnen auf Tuchfühlung gehen, wissen die Bewohner der wohlhabenden Südbezirke oft nicht. Ebenso wenig, dass dort die Müllhaufen wachsen, weil sie nie abgeholt werden", erzählt Michel B.

Der alte Hafen lockt viele Touristen in die Provence-Stadt
Der alte Hafen lockt viele Touristen in die Provence-Stadt © (c) Sergii Figurnyi - stock.adobe.com (Figurniy Sergey)
Die Wohnhäuser im Norden sind oft in desolatem Zustand. Davor sammelt sich Müll
Die Wohnhäuser im Norden sind oft in desolatem Zustand. Davor sammelt sich Müll © Reddit / u/momohartn

Durchsiebte Leichen zwischen maroden Häusern

Bei einer Razzia im März stellte die Polizei Sturmgewehre und 300.000 Euro in bar sicher. 14 Personen wurden von der Staatsanwaltschaft angezeigt – wegen Drogenhandel. Die Ursache für die eskalierende Gewalt sind Revierkämpfe zwischen Drogenbanden. In den Hierarchien der Verbrecherbanden stehen die Todesopfer ganz unten, sie sterben für die Kontrolle über die besten Drogenumschlagplätze, erzählt Michel B. Im Februar wurde ein 17-jähriger Dealer zu Tode gelyncht. Ende März fand man die von Patronen durchsiebte Leiche eines 17-jährigen Jungen, die auf einem Baugrundstück zurückgelassen wurde. Die Statistik der Todesopfer steigt von Jahr zu Jahr und die zuständige Staatsanwältin von Marseille, Dominique Laurens, geht davon aus, dass sich die Gewalt fortsetzen wird. "Es wird aber nicht immer und überall geschossen, nur an den Drogenumschlagsplätzen", erzählt Michel B. Die Getöteten seien meist selbst aktiv in den Drogenhandel verwickelt.

Viele Menschen hier suchen einen Ausweg aus dem Elend und werden drogenabhängig. Marseille ist wie kaum eine andere französische Stadt von sozialer Ungleichheit betroffen. Besonders in den nördlichen Vierteln grassieren Armut und Hoffnungslosigkeit, heruntergekommene Hochhäuser prägen die Landschaft. Die Arbeitslosenquote beträgt bis zu 40 Prozent. Dieses Elend ist nicht neu – der Drogenhandel blüht hier bereits seit Jahrzehnten. Die "quartiers nords" (Nordbezirke), gelten als eine der gefährlichsten Gegenden des Landes und bescherten Marseille ihren Ruf als hässliche Außenseiter-Stadt.

Bewohner protestierten am Dienstag gegen die kriminellen Entwicklungen: "Stoppt den Mord an unseren Kindern" steht auf dem Plakat
Bewohner protestierten am Dienstag gegen die kriminellen Entwicklungen: "Stoppt den Mord an unseren Kindern" steht auf dem Plakat © APA/AFP/CHRISTOPHE SIMON (CHRISTOPHE SIMON)
Eine Drogenabhängige wird von der französischen Polizei verhaftet
Eine Drogenabhängige wird von der französischen Polizei verhaftet © APA/AFP/CHRISTOPHE SIMON

Die Mafia fängt die Hoffnungslosen ein

Aber es gibt auch Bewohner, die die eskalierende Gewalt nicht länger hinnehmen wollen. "Ich habe ein Baby. Man muss da etwas machen und den Jungen helfen", sagte eine Frau, die an einer Demonstration am Dienstag teilnahm, zu einem lokalen Fernsehsender. Michel B. meint, es gebe zwar viele Bürgerinitiativen, die eine Veränderung fordern würden, "aber ihnen fehlen die finanziellen Mittel und die institutionelle Unterstützung". Er sagt, dass Marseille lange von den Pariser Politikern "ignoriert und verachtet" wurde.  Auch heute werde noch weggesehen, Vetternwirtschaft und Korruption würden die Stadtpolitik bestimmen.

Aber nicht alle Menschen geben auf. Viele Jugendliche versuchen es auf dem normalen Weg, aber sie tun sich schwer: "Die überwiegende Mehrheit der Jungen bleibt wirtschaftlich von ihrer Familie abhängig. Sie hoffen auf unbefristete Arbeitsverträge, besser bezahlte Jobs, sogar wenn es schwere körperliche Arbeit ist. Erst dann können sie sich eine Wohnung nehmen oder einen Kredit für ein Fahrzeug abschließen", erzählt Michel. Dabei wüssten viele nicht einmal, wie man einen eine Bewerbung schreibt oder wie man sich für ein Vorstellungsgespräch kleidet – die Hürden sind hoch. Die Drogenmafia ist dafür sehr erfolgreich bei der Rekrutierung neuer Mitglieder.

Michel B.* heißt in Wirklichkeit anders, der Name ist der Redaktion bekannt.

Jedes Jahr kommen in Marseille Millionen von Touristen an. Sie wollen blühende Lavendelfelder sehen oder im Mittelmeer baden
Jedes Jahr kommen in Marseille Millionen von Touristen an. Sie wollen blühende Lavendelfelder sehen oder im Mittelmeer baden © (c) Freesurf - stock.adobe.com