Scheu, wie auf einer Lichtung, steht da ein zartes Bernstein-Reh. Auf Gudrun Müllers Wohnzimmerkästchen. Und dieses Tier sagt mehr über ihr Leben aus, als jedes andere es tun könnte. Denn wie das Dasein des scheuen Rehs hat auch die Geschichte der Grazerin mit Flucht zu tun – und verhängnisvoller Zutraulichkeit. Fast 50 Jahre verbrachte Müller in der berüchtigten Sekte "Colonia Dignidad", ehe ihr die Flucht gelang.

1961 wanderte der deutsche Ex-Wehrmachtssoldat und Laienprediger Paul Schäfer nach Chile aus und gründete dort die "Kolonie der Würde". Dass er seine Bestimmung im Namen des Herren gefunden hatte, kam gelegen. Denn Schäfer wurde in Deutschland – nachdem zwei Vergewaltigungsfälle bekannt worden waren – bereits per Haftbefehl gesucht.

"Pius", der brutale Führer

Nach außen hin gab sich Schäfer in Südamerika als guter Hirte, als Pionier eines landwirtschaftlichen Vorzeigeprojekts. Deutsche Tüchtigkeit, Gemeinschaftsgeist und ein Wohltätigkeitskrankenhaus taten ihr Übriges. Nach innen regierte Schäfer als brutaler Führer und pervertierte den Namen seiner Kolonie. Als "Pius" ließ er sich ansprechen. Predigte über Sünde und Apokalypse, erniedrigte, misshandelte – unterstützt vom Junta-Chef Augusto Pinochet, der Oppositionelle und Regimekritiker dort foltern ließ.

Der pädophile Sektenführer Paul Schäfer
Der pädophile Sektenführer Paul Schäfer © (c) AP (ROLANDO ANDRADE)

Müllers Albtraum beginnt 1958 und mit dem Glauben an ein tugendhaftes Leben. Ihre Familie, tiefgläubig, schöpft Vertrauen in Schäfer. Mit seinem VW Bulli kommt er eines Tages nach Graz. Begeistert mit seiner Ausstrahlung, seiner Vision. "Wir waren von unserer Pfingstgemeinde Scheuklappen gewohnt. Bei ihm durften wir toben", beschreibt es Müller im Rückblick. Schäfer nimmt die damals 17-Jährige zunächst nach Deutschland mit. Dort soll sie helfen, ein Jugendheim aufzubauen.

16 Stunden Arbeit, drei Stunden Schlaf

Danach geht es nach Chile. Fünf Geschwister landen im Laufe der Jahre ebenfalls in der Kolonie. Die Eltern, so verspricht Schäfer, werden bald nachkommen. Doch dazu kommt es nie. Bereits im Jahr 1966 (siehe Foto) versucht die Familie – vergeblich – die Kinder aus Chile zu retten. Die Kleine Zeitung titelt: "Grazer Kinder in Chile zurückgehalten."

Gearbeitet wurde fast durchgehend. "Auf der Hühnerfarm, in der Wäscherei, im Krankenhaus." Mehr als 16 Stunden am Tag. Oft nur drei Stunden Schlaf dazwischen. Untätigkeit war Teufels Werk, Sünde nahezu alles. Die Liebe. Die Familie. Das Glück. Im Grunde das Leben. Ehen waren verboten, Kinder waren es auch. Deshalb raubt Schäfer Kinder von verarmten chilenischen Familien im Umland. Alles und jeder wurde getrennt. Ihre Geschwister sieht Müller fast nie. Doch inmitten des Hasses wächst auch Liebe. Wolfgang heißt der Grund, weshalb sie durchhält, überhaupt an ein besseres Morgen denkt. Aber auch ihn sieht sie in den Jahrzehnten nicht oft. Wenn, dann im Geheimen, im Wald. Liebe im Laub, die Hoffnung als dünner Ast – aber er bricht nicht. Müller fängt an, in Jahren zu zählen, statt in Stunden, Tagen. Wenn überhaupt. Denn Zeit gibt es an diesem Ort nicht. Nicht einmal Uhren.

"Am schlimmsten waren die Elektroschocks"

"Ich wurde immer wieder geschlagen", erinnert sich die Grazerin. Sie war einerseits gläubig, tapfer, andererseits aufmüpfig; auch eine, die nicht petzte. Vor allem aber war sie: eine Frau. Und Frauen hasste Schäfer. "Er hat uns nie mit unserem Namen angesprochen. Nie." Bei Schäfer hießen sie "dumme Gans", "blöde Ente". Und hörten darauf. Umso lieber umgab sich der pädokriminelle Sektenführer mit kleinen Buben. "Aber er hatte auch Geliebte", betont Müller.

Kolonie der Würde. "Ich wurde mit Medikamenten vollgestopft und Schlägen zur Ruhe gebracht. Aber das Schlimmste waren die Elektroschocks", schildert sie. Nur nicht den Verstand verlieren, sofort wieder zu denken beginnen, ermahnte sich Müller nach jeder Sitzung. Die Kommune war Schäfer nicht genug. Er wollte ihre Erinnerung, sich in ihre Hirne winden. Der Wille will oft, weil er muss. Müller war eine der ersten, die gesprochen hat, ihren Willen konnte Schäfer nie brechen. Historikerberichte und Bücher stützen sich auf ihre Schilderungen. Als Daniel Brühl und Emma Watson einen Film zur Sekte drehen, schicken sie ihn Müller zur Durchsicht.

Fehlende politische Hilfe

Das erste Mal gelang ihr 1988 die Flucht aus dem streng bewachten Areal. Mit dem Fahrrad legte Gudrun Müller Hunderte Kilometer in die Hauptstadt Santiago zurück. Ohne Geld, denn das gab es in Schäfers Staat im Staat nicht. Ohne Sprache, denn obwohl Müller ihr halbes Leben in einem spanischsprachigen Land verbrachte – die Sprache durfte sie nie erlernen. Doch die Botschaft war nicht die ersehnte Rettung. "Sie haben mich wieder zurückgebracht, zurück in die Hölle." Tatsächlich frei kam Müller erst 2005, als die Sekte langsam zu zerbrechen begann.
Für den Politikwissenschaftler Jan Stehle ist das Kapitel "Colonia Dignidad" das "größte Menschenrechtsverbrechen unter deutscher Beteiligung". Seit den 1960er-Jahren hätten die bundesdeutsche Außenpolitik und Justiz Hinweise auf schwere Verbrechen in der Sekte erreicht. Doch Führungsmitglieder der Colonia pflegten enge Kontakte zur Politik.

© (c) KLZ / Lea Blagojevic

Bis heute keine Entschädigung

Beim Wort "Entschädigung" muss auch Müller tief durchatmen. "Das war ein Tropfen auf dem heißen Stein", so das Sektenopfer. Von der Republik Österreich bekam sie bis heute keinen Cent. Dafür kämpft sie nach wie vor. Wie weit die Aufarbeitung hierzulande ist, zeigt auch eine Anfrage der Kleinen Zeitung bei der Bundesstelle für Sektenfragen. Opferzahlen zur "Colonia" lägen keine vor, Dokumente zur österreichischen Beteiligung ebenfalls nicht. Müller kennt die Zahl. Zwölf österreichische Opfer habe es gegeben – alle kommen aus dem Raum Graz.
So, wie sie hier sitzt, in ihrer kleinen Wohnung am Rande der Stadt, zufrieden und friedlich, wirken die Schilderungen wie entfernte Fieberträume. Das gehört zu den großen Missverständnissen im Leben. Zu glauben, die Krater und Furchen des zurückgelegten Lebensweges am Gesicht eines Menschen ablesen zu können.

Der falsche Glaube als Grund für ihr geraubtes Leben? Nein, daran glaubt Gudrun Müller nicht. Gott vertraut sie bis heute. "Den Glauben hab' ich nie aufgegeben, das war meine Stärke. Das konnte Schäfer nicht gebrauchen. Ich habe ihn damit gestraft." Für das Leben ist es nie zu spät, das zeigt diese Geschichte. Vor Kurzem ist die 81-Jährige wieder aus dem Altersheim ausgezogen. Verständlich, der Drang nach Freiheit. Nach einem halben Leben in Gefangenschaft. Jetzt gilt es, ein ganzes halbes Leben nachzuholen.