Mit einem eindringlichen Appell haben sich Wissenschafter an heimische und europäische Politiker gewandt. Die dramatische Situation in Flüchtlingscamps auf den griechischen Inseln sei der "traurige Beweis", dass Hilfe vor Ort nicht funktioniere. Die Politik müsse rasch handeln, "solange ein drohender Kontrollverlust" an den EU-Außengrenzen noch abgewendet werden könne, heißt es in einer Aussendung des Wissenschaftsnetzwerks Diskurs.

Die Forscher von Uni Wien, Wirtschaftsuniversität Wien (WU) und Med Uni Wien fordern deshalb eine "sofortige Evakuierung" der griechischen Lager und eine "geordnete, koordinierte, regulierte" Aufnahme von Geflüchteten in Österreich. Die Frage spaltet bisher die Bundesregierung: Während sich die Grünen dafür aussprechen, stellt sich die ÖVP gegen die Forderung nach einer Aufnahme von Schutzbedürftigen.

Hilfe vor Ort alleine sei unmenschlich und erhalte genau jene Strukturen aufrecht, die "ursächlich für den Brand in (dem Flüchtlingscamp, Anm.) Moria waren: chronische Überfüllung, lange Aufenthaltsdauer, fehlende Perspektiven, unzureichende Unterbringung und Versorgung", erklärte der Politikwissenschaftler Alexander Behr. Moria sei somit "keine überraschende, sondern eine bewusst produzierte Katastrophe", hieß es in der Aussendung. Durch die untragbaren Umstände in den Flüchtlingscamps werde laufend die Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK) verletzt.

Ratten, Schlangen, Schlamm

Die Hilfsorganisation Ärzte ohne Grenzen (MSF) bezeichnete die Entwicklung in den griechischen Camps als "alarmierend". Nicht nur die Lebensbedingungen seien weiterhin katastrophal, auch die psychische Situation der Geflüchteten sei besorgniserregend. So verzeichnete MSF einen "alarmierenden Anstieg von Suizidgedanken", auch bei Kindern und Jugendlichen.

Manche Menschen in Kara Tepe oder im Lager Vathy auf der Insel Samos würden bereits seit vielen Monaten bzw. Jahren dort festsitzen. "Im Schlamm, zwischen Ratten und Schlangen, mit unzureichender medizinischer Versorgung. Sie haben kaum Aussicht auf eine Verbesserung ihrer Situation", schilderte Laura Leyser, Geschäftsführerin von Ärzte ohne Grenzen Österreich, in einer Aussendung. Sie bitte die Regierung "inständig": "Das Gebot der Stunde ist die umgehende Evakuierung der Menschen von den griechischen Inseln, und daran sollte sich auch Österreich beteiligen."

Medieninszenierung vor Menschlichkeit?

Während sich auf politischer Ebene in Österreich Grüne, SPÖ und NEOS für eine Evakuierung und Aufnahme aussprechen, sind ÖVP und FPÖ dagegen. 

Die SPÖ-Nationalratsabgeordnete Katharina Kucharowits appellierte an die Regierung, die "humanitäre Katastrophe" endlich zu stoppen. Es sei die "politische und menschliche Pflicht, Menschen aus dem Elend zu retten", sagte sie in Richtung Bundeskanzler Sebastian Kurz (ÖVP). Sich auf Hilfsgüter zu beziehen, "die medial inszeniert zur Verfügung gestellt wurden", sei zu wenig, spielte sie auf die österreichischen Hilfslieferungen nach dem Brand in Moria im September an, die Innenminister Karl Nehammer (ÖVP) damals unter Begleitung zahlreicher Reporterteams medienwirksam nach Athen brachte.

Ähnlich äußerte sich Stephanie Krisper, NEOS-Sprecherin für Migration und Asyl: Es sei "schon überfällig zu handeln". "Auf europäischem Boden vegetieren Menschen, darunter viele Familien und Kinder, unter Zuständen dahin, die Folter beziehungsweise unmenschliche Behandlung darstellen. Mehr gibt es eigentlich nicht zu sagen und nichts zu diskutieren", sagte Krisper via Aussendung, in der sie auch die "zynische Politik" des Kanzlers kritisierte.

Der Mythos "Pull-Faktor"

Dass die Aufnahme von Geflüchteten einen Pull-Faktor darstelle, wie von der ÖVP als Begründung für ihre Ablehnung angeführt wird, sei aus wissenschaftlicher Sicht falsch, erklärte der Historiker Philipp Ther. Flüchtlingsströme würden vor allem durch lebensbedrohliche Umstände in den Herkunftsländern beeinflusst. Die gegenwärtige Flüchtlingspolitik sei "schädlich für das politische Klima und die wirtschaftliche Entwicklung im Inland sowie für das Renommee im Ausland", betonte Ther.

Experten und Nichtregierungsorganisationen (NGOs) würden seit Monaten vor den "Konsequenzen der ungelösten EU-Migrations- und Asylpolitik" warnen, jahrelang hätten Griechenland, die EU und ihre Mitgliedstaaten es verabsäumt, auf den griechischen Inseln für menschenwürdige Zustände zu sorgen. Dass die im von der EU-Kommission präsentierten Migrationspakt enthaltenen Vorschläge wie etwa wie "Rückführpatenschaften" und "flexible Solidarität" die Situation auf Lesbos verbessern werden, sei nicht zu erwarten, erklärte Judith Kohlenberger, Migrations- und Fluchtforscherin an der Universität Wien.

Der Menschenrechtsexperte Manfred Nowak beanstandete den Verstoß der EU gegen das in der Genfer Flüchtlingskonvention festgehaltene Prinzip der Nicht-Zurückweisung (Non-Refoulement-Prinzip), wonach Geflüchtete an der Grenze das Recht auf Einreise und Zugang zu rechtsstaatlichen Verfahren, also einem Asylverfahren, haben. 

Courage in der Zivilgesellschaft

Die Initiative "Courage - Mut zur Mitmenschlichkeit" will die humanitäre Katastrophe beenden und fordert ebenso eine Aufnahme der Menschen. Zu den Unterstützern der Initiative gehören auch der Wiener Dompfarrer Toni Faber und der Innsbrucker Diözesanbischof Hermann Glettler. Faber bezeichnete eine Aufnahme darbender Flüchtlinge als "Gebot der Stunde". Mensch sein bedeute, in Not geratene Brüder und Schwester "als Menschen zu behandeln", mahnte er. "Ja, und die Ausrede gilt nicht, dass wir auch schon viel getan haben."

"Courage"-Initiatorin Katharina Stemberger bekräftigte, dass es beim Thema Lesbos nicht um Migrationspolitik gehe, sondern darum, "das Leid dieser Leute dort zu beenden". "Wenn man das nicht macht, ist es sehr herzlos", sagte sie. Viele der auf Lesbos lebenden Flüchtlinge seien bereits anerkannt oder kämen aus Ländern mit guter Aussicht auf Asylstatus. Sie müssten auf der griechischen Insel in Unterkünften leben, die nicht winterfest seien. "Die Zelte brechen zusammen, sind überflutet", gab Stemberger ihre Eindrücke von einem Lokalaugenschein wieder. Bereits siebenjährige Kinder hätten Selbstmordgedanken "und müssen überzeugt werden, sich nicht das Leben zu nehmen".

Mit Blick auf die Linie der türkis-grünen Bundesregierung meinte Stemberger, dass Hilfe vor Ort "gut gemeint" sei. "Wenn man jemals dort war, sieht man, dass es nicht funktioniert."