Es gibt keinen Wirtschaftszweig, der derzeit nicht (in)direkt von der Pandemie betroffen wäre. In akuter Seenot: dieKreuzfahrtbranche.

Nach monatelanger Zwangspause durften die ersten (halbleeren) Schiffe im Sommer wieder ablegen: Passagiere konnten die schwimmenden Kleinstädte teils wieder für Ausflüge verlassen – mit reduziertem Kontakt zur lokalen Bevölkerung. Im Oktober waren etwa zehn von 300 Schiffen mit 1000 oder mehr Reisenden unterwegs (siehe Infokasten), danach kamen weltweit neue Corona-Wellen. Im Moment unternimmt nur noch TUI "blaue Reisen" um die Kanaren – ohne Landgang. In der Südsee kreuzen einige wenige Anbieter, in den USA ist nun auf behördliche Anordnung hin alles dicht.

Es stellt sich die Frage, wie viele Reedereien über Wasser bleiben werden. Aida Cruises in Deutschland meldete Umsatzausfälle von 400 Millionen Euro im Monat. "Wir sind mit dem Bund im Gespräch über die Gewährung von Krediten in mittlerer dreistelliger Millionen-Euro-Höhe", sagte Michael Thamm, Chef der Costa-Gruppe, zu der Aida Cruises gehören. Preiserhöhungen wurden zuletzt nicht ausgeschlossen.

© (c) AFP (ROSLAN RAHMAN)

Vor der Pandemie boomte die Branche beispiellos: Laut der Cruise Lines International Association (Clia), dessen Mitgliedsreedereien 95 Prozent der globalen Kapazitäten stellen, hängen an ihr nur in Deutschland 48.000 Arbeitsplätze. Die Wertschöpfung dort: 6,6 Milliarden Euro. Die Clia hielt sich mit Zahlen für 2019 zurück – seriöse Insider sprechen gegenüber der Kleinen Zeitung aber von weltweit 30 Millionen Passagieren.



Der Status quo? Kreuzfahrtschiffe werden seit einiger Zeit ausgemustert – meist ältere Modelle, die Reserve bei Nachfragespitzen waren, jetzt aber nicht mehr gebraucht werden. Häufig wäre ihre Nachrüstung für Corona-Hygienekonzepte zu kostspielig gewesen – etwa die Umrüstung der Klimaanlagen mit Filtern und Frischluftzufuhr oder mehr Platz in Crew-Unterkünften. Im Bild oben: die riesige Aliağa-Abwrackwerft bei Izmir (Türkei).



Wolfgang Meyer-Hentrich nimmt sich in seinem Buch "Wahnsinn Kreuzfahrt: Gefahr für Natur und Mensch" (C. Links Verlag) kein Blatt vor den Mund – für ihn ist all das kaum überraschend (siehe Interview): "Der Kreuzfahrt-Industrie steht das Wasser bis zum Halse. Carnival Cruise Line, der größte Anbieter, verbrennt aktuell jeden Monat eine Milliarde Dollar. Die fetten Profite der letzten Jahrzehnte wanderten längst in die Taschen der Anleger. Momentan lebt die Branche auf Pump, es gibt Konkurse."

Für Meyer-Henrich besteht kein Zweifel, dass Corona alles veränderte: "Der Hype ist endgültig vorbei. Die naive Begeisterung der Massen für den Kreuzfahrtrummel wird sich nicht mehr wieder ohne Weiteres einstellen. Dieser Bruch lag schon in der Luft, die Kritik an der Branche hatte stark zugenommen." Gemeint sind ökologische Aspekte und "Overtourism" – man denke an die bedenklichen Zustände in Venedig oder etwa im weltberühmten Geirangerfjord in Norwegen vor Corona.

© (c) dapd (Luigi Costantini)

"Als das ganze Ausmaß der Pandemie in den USA noch nicht bekannt war und die großen Kreuzfahrtanbieter in Miami noch davon ausgingen, dass der ganze Spuk in zwei, drei Monaten vorbei sei, preschten sie bereits mit Billigstangeboten vor", zieht Meyer-Hentrich Bilanz. Und: "Schnäppchenpolitik gehörte immer zum Wesen dieser Billig-Discounter auf See."


Der Kreuzfahrt-Experte Franz Neumeier (www.cruisetricks.de) nimmt im Interview die gebeutelte Branche indes in Schutz: Wie es weitergeht, sei kaum abzuschätzen – wie im Tourismus allgemein. Es hätte sich aber gezeigt, "dass die Kreuzfahrt sich der Situation flexibel anpassen kann und funktionierende Infektionsschutzkonzepte hat, mit denen Kreuzfahrten möglich sind." Neumeier wähnt Kreuzfahrtschiffe sogar im Vorteil: "Das strikte Hygienekonzept macht sie zu einem sichereren Ort. Wo an Land gibt es eine abgeschottete Umgebung, bei der jeder Einzelne einen frischen Corona-Test (siehe Infokasten) absolvierte, wo sich alle an Abstand und Maskenpflicht halten und zusätzliche Hygienemaßnahmen das Risiko weiter senken? In keiner U-Bahn, keinem Flugzeug, keinem Supermarkt, keinem Lokal."



Meyer-Hentrich kontert vehement: "Diese Schiffe sind Superspreader. Das zeigte sich schon zu Beginn der Krise (im März, als noch keine Schutzmaßnahmen an Bord galten, Anmerkung), als auf der 'Diamond Princess' ein einziger, in Hongkong zugestiegener Passagier 712 Menschen an Bord infizierte. In vollklimatisierten Buffet-Restaurants für bis zu 1000 Personen kann sich der Virus ideal verbreiten." Nachsatz: "Es ist zu hoffen, dass Verbraucher kritischer werden und sich das Angebot genauer anschauen. Dann könnte sich der Trend zu umweltfreundlicheren Produkten, die etwas teurer sind, durchsetzen. Einigen kleineren Anbietern wird da die Puste ausgehen."



Klar ist auch für Neumeier, dass die Kreuzfahrt im Wandel sei und die Pandemie die Nachfrage einbrechen ließ: "Es ist eine erfolgsverwöhnte Branche – auch, weil sie Produkte in hoher Qualität anbietet. Reedereien werden mehr als zuvor in Kundenbindung stecken, noch innovativer sein müssen." Ziel der "Neustart-Phase" sei es, "Konzepte zu verfeinern, ein stabiles System zu schaffen, Vertrauen aufzubauen – bei Behörden und Passagieren." Mit Ausnahme des "Hurtigruten"-Vorfalls im Juli (Dutzende infizierte Crew-Mitglieder und Passagiere an Bord der "Roald Amundsen" zwischen Spitzbergen und Norwegens Festland, Anmerkung), wo "grob gegen Regeln verstoßen" worden sei, sei der im Sommer Neustart ohne Zwischenfälle verlaufen, befindet Neumeier.

© (c) AP (Noah Berger)



Wirtschaftlich ortet auch er schwere See, aber (noch) keine Katastrophe: "Derzeit gehe ich davon aus, dass es die meisten Reedereien überstehen." Die Buchungszahlen der Reedereien für Mitte und Ende 2021 ließen annehmen, dass die Lust der Kunden "sehr schnell wieder zurückkommen" werde, zeigt Neumeier Optimismus.