Großbritannien ist der neue europäische Spitzenreiter in der Todes-Statistik während der Coronakrise. Mit mehr als 32.300 Opfern lösten die Briten Italien in dieser "traurigen" Rangliste ab, weltweit verzeichnen damit nur die USA offiziell mehr durch oder mit Covid-19 verstorbene Personen. In den Vereinigten Staaten geht es bei knapp 1,2 Millionen Infizierten bereits in Richtung 70.000 Toten.

Aus einer am Dienstag veröffentlichten Statistik der britischen Behörde ONS geht hervor, dass die Lage in Pflegeheimen in Großbritannien besonders verheerend ist. Allein in England starben zwischen dem 10. April und dem 1. Mai fast 6.400 Pflegeheim-Bewohner an den Folgen einer Coronavirus-Infektion. Gleich 2.044 dieser Todesfälle wurden laut der Statistik in der letzten Aprilwoche vermeldet.

Kritiker werfen Großbritannien schlechtes Krisenmanagement vor. Nach dem Vorbild Südkoreas will die Regierung nun mit umfangreichen Tests und der Nachverfolgung von Infektionsketten die Pandemie unter Kontrolle bringen. Das Motto zur Bekämpfung des Erregers lautet "test, track and trace" - etwa: testen, verfolgen und aufspüren. Eine seit Dienstag auf der Isle of Wight im Ärmelkanal getestete Warn-App soll helfen.

Der Weg zum Sorgenkind Europas

Großbritannien galt noch vor einigen Wochen als Land, in dem sich das Coronavirus nur zaghaft auszubreiten schien. Politiker klopften sich bereits auf die Schulter und lobten das Gesundheitssystem, das so gut wie kein anderes auf der Welt auf eine Pandemie vorbereitet sei. Doch das sollte sich schnell als Irrtum erweisen.

Als die Weltgesundheitsorganisation (WHO) am 30. Jänner eine "gesundheitliche Notlage von internationaler Tragweite" verkündete, hatte Premierminister Boris Johnson ganz andere Dinge im Kopf. Einen Tag später führte er sein Land aus der Europäischen Union. Auf dem Parliament Square inmitten Londons herrschte Volksfeststimmung unter den Brexit-Anhängern. Das Virus schien in weiter Ferne. Bei einer Rede wenige Tage später warnte Johnson davor, in Panik zu verfallen und die großartigen Chancen, die der Brexit biete, durch allzu harsche Beschränkungen zu schmälern.

Noch Anfang März prahlte der Premier, er habe Menschen in einem Krankenhaus, darunter Covid-19-Patienten, die Hand geschüttelt und werde dies weiterhin tun. Die Maßnahmen der Regierung beschränkten sich zu diesem Zeitpunkt auf den Ratschlag, sich häufig und gründlich die Hände zu waschen. Am 12. März verkündete Johnson, das Land trete von der Eindämmungs- in die Verzögerungsphase ein. Aggressives Testen und Kontakte nachzuverfolgen, mache nun keinen Sinn mehr, hieß es. Einwände von Journalisten, die WHO empfehle weiterhin, so viele Tests wie möglich durchzuführen, wurden als Empfehlung an Schwellen- und Entwicklungsländer abgetan.

Die Kehrtwende

Erst Mitte März leitete die Regierung eine Kehrtwende ein. Aufgeschreckt wurde sie von einer Studie des Imperial College in London. Die Forscher hatten ausgerechnet, dass die ursprüngliche Strategie der Regierung zu einer erheblichen Überlastung der Krankenhäuser führen werde und 250.000 Menschen bis August das Leben kosten könnte. Doch noch immer dauerte es eine Woche, bis Schulen, Restaurants und Geschäfte geschlossen wurden und das Alltagsleben weitgehend zu Erliegen kam. Das letzte Wochenende vor dem Lockdown nutzten viele Menschen für Ausflüge. In Nationalparks wurden Rekord-Besucherzahlen verzeichnet. Ende des März teilte Johnson mit, an dem Virus erkrankt zu sein.

Erst spät ging auch London zu massenhaften Tests über. Doch das brauchte Zeit. Es wird befürchtet, dass die späte Einsicht vielen Menschen das Leben gekostet haben könnte.