Als mein älterer (und einziger) Bruder Markus 1989 mit für einen 18-Jährigen bewundernswerter Schneid von Radenthein am Oberkärntner Millstättersee in die weite Welt auszog, regierte in Großbritannien noch Margaret Thatcher – eiserne Lady, härter als Stahl aus Sheffield. Als er nach Etappen in Wien, Paris und Oxford 1997 in seiner neuen Heimat London eintraf, war Tony Blair frisch im Amt.

Nun, gut 22 Jahre und vier Premierminister später, blinkt Großbritannien, um die finale Ausfahrt zu nehmen: Europa, ja schon, bitte – aber die EU? Thanks, but no thanks. 47 Jahre nach dem Beitritt beendet das Vereinigte Königreich sein Brüssel-Engagement. Britannia goes Brexit. Wie "splendid" wird die "Isolation"? Was wird sich auf der Insel ändern? Fragen, die neben meiner Familie viele Österreicher mit Verwandten in Großbritannien stellen.

Unsicherheit drückt auf Investitionen

Die Finanzbranche im Hotspot London wurde Markus' Berufswelt – ziemlich weit entfernt von meiner. Seit seiner Ankunft ist er für die gleiche, nicht allzu große Investitionsgesellschaft tätig, die Kapitalbeteiligungen an mittelständischen britischen Unternehmen erwirbt. Der Job brachte ihn im Laufe der Jahre in wirklich alle Winkel des Landes und zu allen Bevölkerungsschichten. Wie sehr Britannia trotz Abstoßungsreaktionen mit "dem Kontinent" verwoben ist – daran bestanden für den heutigen Senior Partner aus praktischer Sicht nie Zweifel: "Fast vier Millionen EU-Bürger leben in Großbritannien. Davon über eine Million in London – von denen wiederum recht viele wie ich im Finanzbereich arbeiten."



Das Vereinigte Königreich wuchs auch mir seit einem Sprachurlaub im Jahr 1990 bei Dutzenden Aufenthalten ans Herz. Zuletzt wurde im Alltag die Fassadenverkleidung der Inselseele brüchig, so Markus: "Die Briten zeichnen traditionell Humor, Höflichkeit und ein gewisser Stoizismus, die 'Stiff upper Lip', aus. In all der Hysterie der Austrittsphase sind diese Qualitäten stark unter Druck geraten." Irgendwann sägte das "Leave" an zu vielen Nervenenden: "Nach der Abstimmung wurde der Brexit zu einer Art nationalen Geißel – allgegenwärtig im Gespräch und in den Medien. Man wurde nur noch in 'Remainer' oder 'Leaver' unterteilt, egal ob bei der Arbeit, im Pub des Vertrauens oder am Fischmarkt. Aber ich bin optimistisch, dass die Briten wieder zu sich selbst finden."

Tag X - 1318 Tage nach Votum

Wie eine Rakete, die eine gewichtige Stufe absprengt, um auf sich gestellt weiterzufliegen, steuert Großbritannien in eine ungewisse Zukunft. Wobei das Tempo freilich alles andere als sportlich war: Sagenhafte 1318 (!) Tage nach dem Brexit-Referendum von 23. Juni 2016 – voll von unsäglichen innen- und außenpolitischen Wirrnissen – ist es jetzt so weit.

Markus unterscheidet seine Zukunft und die seiner zwei prächtigen, in London geborenen Söhne (11 und 16) von der wirtschaftlichen. Erstere scheint geklärt: "Großbritannien hat EU-Bürgern, die seit mindestens fünf Jahren hier wohnen, das permanente Aufenthaltsrecht ('Settled Status') zugestanden, um das bis Juni 2021 angesucht werden muss. Hier herrscht Klarheit, die Botschaft hat eine informative Website. Die Option einer Doppelstaatsbürgerschaft, die Österreich ja normalerweise ablehnt, wurde – im Falle eines ungeregelten Austritts Großbritanniens – in Erwägung gezogen. Dazu ist es jetzt freilich nicht gekommen." Diffuser sind indes die ökonomischen Aussichten: "Die Ungewissheit drückte das Wirtschaftswachstum, Investitionsentscheidungen wurden auf die lange Bank geschoben. Das sahen wir auch bei unseren Firmen deutlich."

Das Königshaus blieb für meinen Bruder bestenfalls eine Art royaler Streichelzoo mit Fütterungspflicht des zahlenden Volkes. Anerkannt wird vom Pragmatiker immerhin seine Langlebigkeit: "Die Monarchie ist unerschütterlich. Sie überlebt jeden Skandal – zumindest, solange die Königin noch schlichten kann." Nachsatz: "Eine Republik wollen auf der Insel weniger als 20 Prozent – trotz Dauerschimpfens. Natürlich herrscht hier Insel-Mentalität, verknüpft mit einer bestimmten Arroganz, die ihren Ursprung in der einstigen Weltdominanz des Kolonial-Empires nahm."

Nationale Politik und EU versagten

Was ließ die Briten mit 51,9 Prozent für ihren Abgang stimmen? "Der Brexit-Wahlkampf hat leider gezeigt, dass nur wenige nationale Politiker die nötige Kenntnis und Begeisterung aufbringen konnten, für die europäische Sache mobil zu machen. Außerdem war das Marketing der EU zu mies." Was könnte die Zukunft im Talon haben? "Wir haben seit Dezember – anders als zehn Jahre davor – eine stabile Regierung, die sich nationalbewusst geben will. Viele nordenglische Wahlkreise setzen zum ersten Mal seit Langem oder zum ersten Mal überhaupt, auf die Konservativen. Man rechnet damit, dass die Regierung in diese Gebiete investiert, um sie langfristig zu halten. International träumen viele von der Renaissance der 'Anglosphäre' – einer Art von post-kolonialem, Englisch sprechendem Handels- und Lebensraum. Konkret wird Westminster rasch ein Handelsabkommen mit den USA anstreben. Das hätte Symbolwert."

Die britische Arbeiterschaft – die Mittelschicht ist seit Langem schwindsüchtig – sieht den Austritt als überfällige Antwort auf den Zentralismus und den Hochmut der Elite. "Ich hoffe nur, sie behalten recht", sagt Markus, der selbst an Märschen für ein zweites Referendum teilnahm. "Beunruhigender als das Votum selbst war der damit einhergehende, spürbare Riss in der Gesellschaft. Zwischen London und der Provinz, Reich und Arm, Alt und Jung – und den Nationen – von denen sich zwei, Nordirland und Schottland, gegen den Brexit gestellt hatten."

Mit Boris Johnson holte sich das Volk einen kruden Poltergeist als Premierminister, der die Klaviatur des Populismus spielt. "Der charismatischste Politiker seiner Generation – obgleich ihm sachliche Kompetenzen fehlen. Die Briten suchten einen Gewinner, der die Nation aufpäppeln kann und glauben zumindest, ihn in ihm gefunden zu haben."

Markus ist sich der Blase, in der er sich in einem guten Londoner Stadtteil befindet, bewusst: "Hier stimmten 60 Prozent gegen den Brexit. Aus meiner Sicht bleibt der Austritt natürlich höchst bedauernswert." Sieht er sich noch als Österreicher als Brite oder als Mixtur? "Es ist ohne Weiteres möglich, sich gleichwertig als Europäer und Österreicher zu fühlen. Als Brite fühle ich mich nur bei Ale- und Bitter-Biersorten."

Und sonst? "Aja, Johnson kann viele lustige Witze erzählen". Der Kärntner Dialekt überdauerte all die Jahre – dazu dürfte sich der trockene britische Humor als Alltags-Homöopathikum gesellt haben. Da gibt es schlechtere Kombinationen – nicht nur in Zeiten des Brexits.