Georgios Stantzos sitzt an seinem Schreibtisch im Bürgermeisteramt an der Platia Dimarchou, dem Rathausplatz von Samos. Erst seit Anfang September ist er Bürgermeister der griechischen Inselgemeinde, aber schon denkt er daran, hinzuschmeißen: "Wenn wir keine Hilfe bekommen, dann treten der gesamte Stadtrat und ich zurück", sagt der parteilose Kommunalpolitiker.

Ausweglos? Noch auswegloser kann es eigentlich nicht mehr werden. Nur ein paar Hundert Meter sind es vom Rathausplatz hinauf zum Lager. Für 648 Menschen ist das Camp ausgelegt, das 2016 als sogenannter Hotspot für die Erstaufnahme und Registrierung ankommender Migranten eingerichtet wurde. Aber inzwischen leben hier zwölfmal so viele Menschen. "Unsere Stadt hat 7000 Einwohner und fast 8000 Migranten – das geht nicht", klagt Bürgermeister Stantzos. Immer wieder hat er an die Regierung in Athen appelliert, mehr Migranten aufs Festland zu bringen. Die Behörden versuchen das zwar. Seit Anfang Dezember haben sie 377 Migranten von Samos aufs Festland gebracht. Aber im gleichen Zeitraum kamen 784 Menschen neu auf die Insel.

In Griechenland bahnt sich eine neue Krise an. Zwischen Anfang Januar und Mitte Dezember kamen 68.000 Schutzsuchende aus der Türkei. Das waren fast 50 Prozent mehr als 2018. Im berüchtigten Lager Moria auf Lesbos, das eine Kapazität von 2840 Plätzen hat, hausen aktuell 20.940 Menschen. Die meisten leben in selbst gezimmerten Behausungen oder Zelten. Bewohner beschreiben das Lager als "Hölle". Auf sie wartet ein harter Winter. Die meisten Zelte bieten kaum Schutz vor Kälte. Warmes Wasser zum Duschen gibt es für die wenigsten Bewohner.

Am meisten leiden die Kinder. Er sei schockiert gewesen, als er jetzt Moria besuchte, sagt Christos Christou, Präsident von Ärzte ohne Grenzen (MSF). Die Hilfsorganisation versucht wenigstens ein Minimum an medizinischer und psychologischer Betreuung zu leisten. Ein Drittel der Bewohner sind Kinder. MSF berichtet von Kindern, die dort Selbstmordversuche unternehmen. "Diese Kinder spielen nicht mehr, sie sprechen nicht mehr – man hat ihnen ihre Kindheit gestohlen", sagt Christou.

Die Situation in Moria sei "vergleichbar mit dem, was wir nach Naturkatastrophen oder in Kriegsgebieten sehen." Es sei empörend, sagt Christou, diese Bedingungen in Europa zu sehen und zu wissen, dass sie nicht Folge eines Desasters sind, sondern "das Ergebnis gezielter politischer Entscheidungen". In einem offenen Brief an die Staats- und Regierungschefs der EU appellierte Christou Ende November: "Stoppen Sie diesen Wahnsinn!"

Besonders schutzlos sind Kinder ohne Eltern oder andere Angehörige. Laut UNO-Flüchtlingsagentur UNHCR sind das etwa 5300. Davon sind rund 500 jünger als 14 Jahre. Sie sind auf sich selbst angewiesen. Dass der deutsche Grünen-Vorsitzende Robert Habeck fordert, unbegleitete Minderjährige aus den Camps herauszuholen, begrüßt man in Griechenland. Schon im Oktober hatte der griechische Minister für Bürgerschutz in einem Brief an seine EU-Amtskollegen gebeten, seinem Land bei der Betreuung unbegleiteter Minderjähriger zu helfen.

Denn "die Stimmung ist explosiv", sagt Bürgermeister Stantzos: "Ein Funke genügt, und alles hier fliegt in die Luft."