"Die vornehmste Aussicht, die ein Schotte jemals zu sehen bekommt, ist die Straße, die ihn nach England führt": So schrieb Samuel Johnson, viel zitierter englischer Literat des 18. Jahrhunderts, mit einem ungehörigen Maß an Despektierlichkeit. Das ist sehr lange her – doch auf die Glut der Liebe zwischen London und Schottland sollte besser niemand warten.

"Bojo" will raus - Schottland will weg

Die Wirrnisse rund um den permanenten Betriebsunfall Brexit, die Großbritannien begleiten, fachten die Abspaltungstendenzen der Schotten erneut an. Das Vereinigte Königreich wurde porös – regiert von einem mittlerweile mehrfach geohrfeigten EU-Austrittswütigen mit fraglichem Stil. "Gemeinsam sind wir sicherer, stärker, wohlhabender" – die Werbefahrt nach Schottland, die Boris Johnson im Juli unternahm, änderte nichts am Berg an Vorbehalten. Dass Schottland sich europafreundlich gibt und sich der EU als potenzieller Partner der Zukunft anträgt, erzürnt wiederum London.

Im Sommer versuchte Boris Johnson bei einem  Schottland-Besuch dem kleinen Bruder Honig ums Maul zu schmieren - allein: Es funktionierte nicht wirklich
Im Sommer versuchte Boris Johnson bei einem Schottland-Besuch dem kleinen Bruder Honig ums Maul zu schmieren - allein: Es funktionierte nicht wirklich © (c) APA/AFP/PAUL ELLIS



Der begrenzt autonome Landesteil des Vereinigten Königreichs mit seinen immerhin 5,4 Millionen Einwohnern macht gar keinen großen Hehl daraus, wo er sich selbst sieht: "Ich denke, und die Umfragen zeigen das auch, dass die Schotten unabhängig sein wollen", ließ die schottische Regierungschefin Nicola Sturgeon Westminster ausrichten. Ein neues Unabhängigkeitsreferendum soll eine klare Linie ziehen, man wolle dies "im nächsten Jahr ins Auge fassen". Einen Brexit dürfe es keinesfalls ohne Deal geben.

Auf politischer Ebene ist die "Scottish National Party" die treibende Kraft hinter den Abspaltungstendenzen. Die SNP ist die größte Partei Schottlands, über Jahre hatte die von Sean Connery unterstützte Fraktion die absolute Mehrheit im Parlament
Auf politischer Ebene ist die "Scottish National Party" die treibende Kraft hinter den Abspaltungstendenzen. Die SNP ist die größte Partei Schottlands, über Jahre hatte die von Sean Connery unterstützte Fraktion die absolute Mehrheit im Parlament © (c) AP (DAVID CHESKIN)



Es sei seit Jahren höchst frustrierend, dass "über Schottlands Schicksal ohne unsere Kontrolle bestimmt" werde, polterte Sturgeon. Angesichts des geplanten EU-Austritts Großbritanniens sei es "mehr als je zuvor wesentlich, dass wir in Schottland eine alternative Option haben." Das klingt nicht mehr nach zartfühlender Diplomatie, sondern nach ehestbaldig anvisierter Abschottung. Ähnlich formulierte es Sean Connery, seit dreieinhalb Jahrzehnten pensionierter Kino-Geheimagent. "Schottland muss mit allen anderen Nationen dieser Welt gleichberechtigt sein. Nichts weniger!" Der heute 89-jährige, nahe Edinburgh Geborene ist Mitglied der "Scottish National Party", die er über viele Jahre mit markigen Auftritten und nicht zuletzt Geld unterstützt hat.



Seit 312 Jahren, seit dem "Act of Union" von 1707, sind die Schotten nun schon Teil von Großbritannien. Das Vereinigungsgesetz änderte über Jahrhunderte nichts am Eigensinn und Nationalstolz. Die verwaltungsmäßige Loslösung von London war der Grundstein für zwei Dezentralisierungs-Referenden (1979 und 1997) – und das erste Unabhängigkeitsreferendum 2014: Dass letzteres mit 55,3 Prozent noch für einen Verbleib im Königreich ausging, ist wirtschaftlich relativ nachvollziehbar: Das britische Pfund zu verlieren, empfänden viele Schotten dann doch als Harakiri. Ansonsten ist man der hartnäckigen Ansicht, auch gut ohne London über die Runden zu kommen, wie ein im Land der Highlands, blickdichten Kilts, Lochs und Single Malt Whiskys gängiger Witz zeigt: "Die britische Regierung warnt davor, dass ein unabhängiges Schottland bald der Dritten Welt angehören wird. Unsere Antwort lautet: Schon möglich. Aber ob es wirklich so viel besser wird?"

Die alte Angst, zu kurz zu kommen

Im Grunde ist es eine womöglich allzu diffuse Urangst, vom zentralen London benachteiligt und nicht ernst genommen zu werden, die die Nationalisten unter den Schotten vom großen Stiefbruder abstößt wie zwei gleiche Magnetpole. Der deutsche Großbritannien-Experte Helmut Weber ortete einmal in einem Interview mit dem "Spiegel" Unterschiede in der grundlegenden Bauweise der beiden Gesellschaften: "In Schottland herrscht traditionell der gemeinschaftsbezogene und in gewissem Sinne egalitäre Calvinismus vor. In England der eher individualistisch und hierarchisch geprägte anglikanische Protestantismus." Einfacher formuliert: "Die Schotten ticken einfach anders." Das ist insofern bemerkenswert, als einige Hunderttausende Engländer in Schottland ganz gut leben.

Schottlands SNP-Regierungschefin Nicola Sturgeon will Schottlands wechselvolle Geschichte per Referendum weg vom übermächtigen Stiefbruder England lenken. Boris Johnson führe das Königreich mit seinem Brexit-Kurs zum Abgrund
Schottlands SNP-Regierungschefin Nicola Sturgeon will Schottlands wechselvolle Geschichte per Referendum weg vom übermächtigen Stiefbruder England lenken. Boris Johnson führe das Königreich mit seinem Brexit-Kurs zum Abgrund © (c) APA/AFP/Scottish Parliament/ANDREW COWAN



"Es ist viel besser, selbst die Kontrolle zu haben – und diese kommt mit der Unabhängigkeit", redet Regierungschefin Sturgeon nicht lange um den heißen Brei herum. Apropos Brei: Der eingangs zitierte Literat Johnson verbiss sich einst noch tiefer in die Schotten und hatte für den dort sehr beliebten Hafer in seinem 1755 veröffentlichten "A Dictionary of the English Language" folgenden Eintrag übrig: "Eine Art von Getreide, das in England Pferde, in Schottland aber Menschen ernährt." Dabei ist Porridge bekömmlich und kulinarisch harmlos. Unbedingt Abstand nehmen sollten Sie bei einem Besuch im schönen Schottland vom Verzehr des als Spezialität kredenzten "Haggis". Googeln Sie es nur, essen Sie es nicht!