Venedig kann man wohl eine Lebensliebe des im Februar verstorbenen Literaten Gerhard Roth nennen. Insgesamt 15 Mal hat er die Stadt bereist und fotografisch festgehalten. Aus mehr als 15.000 Bildern, die von der Stadt anfertigte, hat Kurator Martin Behr nun mithilfe von Roths Witwe Senta die Ausstellung „Venedig – Ein Spiegelbild der Menschheit“* extrahiert, die am Freitag im Greith Haus im südweststeirischen St. Ulrich eröffnet wurde. Ort und Datum sind dabei signifikant: Roth wirkte lange als Spiritus rector des Kulturzentrums an seinem Lebensmittelpunkt. Und er wäre am 24. Juni 80 Jahre alt geworden.

Die Ausstellungseröffnung war folgerichtig als Feier seines facettenreichen künstlerischen Werks angelegt, bei dem auch sein letzter, erst im Mai posthum publizierter Roman „Die Imker“ präsentiert wurde. In dem Buch ist das Verschwinden ein wesentliches Motiv – eines, das sich auch in den Fotografien des Autors immer wieder gespiegelt findet. Denn Roth hat in seinen Fotografien nicht nur das touristische, makellose Venedig abgebildet. Obgleich er sich auch damit beschäftigte, war sein Blick weit häufiger auf das Ungeschönte, Flüchtige, Vergehende der fragilen Metropole gerichtet.

Eindrücklich zeigt sich das im einzigen Großformat der Ausstellung: einer Ansicht des im Morgennebel verschwindenden Campanile auf dem Markusplatz, horizontal aufgespannt auf einem Tisch. Noch mehr aber zeigt es sich in seriell angeordneten Bildern, die im originalen Kleinformat nebst Eindrücken von Menschen, Fassaden, Kanälen, Märkten, Friedhöfen, Nicht-Orten auch scheinbar abstrakte Strukturen wiedergeben: Mauerwerk, Graffiti, Blätterwerk, Flechten, Mosaike, Gitter, Licht- und Schattenspiele, reflektierende Wasseroberflächen.

Gerade in diesen Arrangements vollzieht sich eine erstaunliche Transformation: Aus den Bildern, mit deren Hilfe der quasi manische Sammler visueller Reize anfangs wohl vor allem die Eindrücke seiner Recherchereisen zu dokumentieren versuchte, ergibt sich nach und nach eine eigene Lesart der Stadt. Als hätte Roth im unablässigen Versuch, mit der Kamera seine Wahrnehmungen von Venedig zu sortieren und zu bändigen, eine Stadt entdeckt, die in ihrer ganz eigenen Sprache mit ihm kommunizierte.

Gerhard Roth. Venedig – Ein Spiegelbild der Menschheit. Greith Haus, St. Ulrich/Greith. Bis 15. August.
www.greith-haus.at

* Ein gleichnamiger Fotoband mit leicht divergierender Fotoauswahl ist 2020 im Brandstätter Verlag erschienen und fungiert nun als Katalog der Ausstellung.