Auch nach 18 Jahren auf dem Lido kann man noch etwas Neues erleben: Als es Samstagnacht im Palalido dunkel und auf der Leinwand hell wurde, setzten Sekunden später Pfiffe und ein Buh-Orkan ein. Er galt der Verleihfirma, die, wie berichtet, drei von vier Pressevorstellungen von "Cassandra's Dream" gestrichen hatte. Rund tausend Glückliche schafften es gegen Mitternacht dann doch in den Saal. Als Woody Allens Name im Vorspann erschien, gab es demonstrativen Applaus.

Cassandra's Dream. Allen erzählt von zwei Brüdern aus der unteren Londoner Mittelschicht, die steil nach oben streben, aber nicht vom Fleck kommen. Terry (Colin Farrell), ein Spieler und Trinker, und Ian (Ewan McGregor), ein charmanter Schwadroneur. Dennoch sind es nette Burschen. Bis ihnen ein reicher, aber zwielichtiger Onkel Hilfe in Aussicht stellt, wenn sie für ihn einen missliebigen Geschäftspartner "eliminieren".

Komische Momente. Bis es dazu kommt, gibt es allerlei komische Momente, aber dann passiert der Mord ganz beiläufig. Im Gegensatz zu Ian, der die Tat eloquent wegsteckt, gerät Terry in einen tiefen Gewissenskonflikt. Mit der Unausweichlichkeit einer griechischen Tragödie steuert alles auf ein furchtbares Ende zu. Der Film ist einerseits eine brillante Sozial- und Personenstudie, zum anderen doch etwas zu leichthändig.

Jesse James. Mit einem wuchtigen 155-Minuten Opus (Produzent: Ridley Scott, Musik: Nick Cave) wartete am Sonntag Brad Pitt auf. Geschrieben und inszeniert von Andrew Dominik ("Chopper"), wird die Geschichte der "Ermordung von Jesse James durch den Feigling Robert Ford" erzählt. Pitt spielt den legendären Banditen, Casey Damon seinen Mörder.

Charismatisch. Es ist ein großartiger Film geworden, relativ leise, sehr genau, historisch authentisch, mit einer fabelhaften Kameraführung und bis in den letzten Nebenpart grandiosen Schauspielleistungen. Allen voran Pitt, der Jesse James als pathologischen Gewalttäter mit charismatischer Aura gibt, und Casey Damon (Matts jüngerer Bruder), der dem Verräter beklemmend realistische Züge verleiht. Als Senior ist der Jet-Set-Literat Sam Shepard mit von der Partie.

Auftrittsapplaus. Als das Team am Sonntag Nachmittag vor die Presse trat, erhielt es verdienten Auftrittsapplaus. Nein, sagt Brad Pitt, es sei kein Western, der Begriff sei ihm zu eng: "Eher ein Film über Beziehungen im Gangstermilieu". Pitt ist auch Co-Produzent des Streifens, der kommerziell wenig bringen dürfte. Warum er in dieser riskanten Funktion mitgemacht hat: "Ich wollte als Türsteher für eine gewisse Qualität garantieren".

Konzentrationsstörungen. Die wirklichen Sorgen Brad Pitts an diesem Nachmittag waren aber ganz andere. Mit Bezug auf den parallel stattfindenden Motorrad-Grand Prix in Misano bekannte der Star: "Ich kann mich nicht richtig konzentrieren, seit Valentino Rossi ausgeschieden ist". Dieser blieb übrigens unverletzt.