Strahlender Sonnenschein und Frühlingstemperaturen am Wahltag, dann Regen, Wind und Kälte am Tag danach. Die Wetterkulisse hätte für die Stimmung in Seattle nicht besser widerspiegeln können. Spürte man am Dienstag noch allerorts Optimismus, änderte sich das mit der Wahlniederlage Hillary Clintons schlagartig: Die vorwiegend durch demokratische Parteianhänger geprägte Stadt war Mittwoch wie verwandelt.

Besonders deutlich wird das im Stadtteil Capitol Hill, eine bürgerliche Wohngegend, in der sich hauptsächlich liberal eingestellte Bewohner niedergelassen haben. Ihre Fassungslosigkeit über das Wahlergebnis ist mittlerweile in Wut umgeschlagen: Wut auf die Meinungsforscher, die Hillary Clinton noch am Wahltag eine über 70-prozentige Chance auf das Weiße Haus eingeräumt haben. Familienvater John fragt sich, wie die Umfragen so daneben gelegen haben können: "Es ist wie beim Brexit – Leute haben sich einfach nicht deklarieren wollen."

Zumindest einen Lichtblick sieht er aber: "Zumindest werden die nächsten Jahre nicht langweilig. Die Zeitungen haben so sicher mehr Unterhaltsames zu berichten als unter einer Präsidentin Clinton", sagt er mit Galgenhumor. Seine Nachbarin Nancy kann nichts Lustiges am Wahlausgang finden. Sie ist Jüdin und fürchtet den aufkeimenden Antisemitismus, der von Trumps Wahlkampf zusätzlich befeuert wurde. Beide Seattler sind sich aber einig: Die nächsten vier Jahre werden sie sich nicht einfach mit der Präsidentschaft Trumps abfinden. Gemeinsam wollen sie sicherstellen, dass zumindest die liberalen Errungenschaften im Bundesstaat Washington wie Homo-Ehe oder Mindestlohn nicht den neuen Machtverhältnissen zum Opfer fallen.