Im September 2017 wählen die Deutschen ihren Bundestag. Kanzlerin Angela Merkel, zum vierten Mal Spitzenkandidatin der CDU, wird im Zentrum der Auseinandersetzungen stehen.  Es wird ihre härteste Bewährungsprobe. Schon zuvor schien ihr Vertrauensvorschuss aufgebraucht, gab es viele kritische Stimmen zu ihrer Flüchtlingspolitik. Der Anschlag von Berlin wird noch mehr polarisieren. Deutschland steht vor einem schmutzigen Wahlkampf. Nicht nur wegen des Aufwindes für die AfD.

Die SPD drängte Mitte Dezember bereits auf ein Internet-Fairnessabkommen vor der Bundestagswahl, das Schutz vor möglichen Manipulationen bieten soll. Anlass war die Wahl in den USA, bei der beide Parteien massiv Stimmung mit Fake-News und persönlich adressierten Postings gemacht haben, wovon letztlich vor allem Donald Trump profitierte. Die Sozialdemokraten gingen in die Offensive und gelobten, keine "social bots" zur Anwendung zu bringen: Social bots sind Computerprogramme, die in sozialen Netzwerken wie Facebook oder Twitter zustimmende oder ablehnende Kommentare erzeugen können. Damit kann der EIndruck erweckt werden, dass bestimmte Äußerungen auf große Zustimmung oder Ablehnung stoßen.  Im US-Wahlkampf waren sie sowohl von Republikaner als auch von Demorkaten instensiv zur Anwendung gebracht worden.

Das AfD-Bundesvorstandsmitglied Alice Weidel hatte den Einsatz von „Social Bots“ erst als wichtiges Wahlkampfinstrument bezeichnet, dann aber auf ihrer Facebook-Seite gepostet, man werde „keine ,Social Bots‘ einsetzen. Eine verbindliche Selbstverpflichtung fehlt. CDU-Politiker schlugen vor, "gezielte Desinformation zur Destabilisierung eines Staates" unter Strafe zu stellen. Auch eine Art Prüfstelle wurde angeregt, die Propaganda-Seiten aufdeckt und kennzeichnet.

Gerüchte aller Art

Gestern warnte Baden-Württembergs Ministerpräsident Winfried Kretschmann (Grüne) vor amerikanischen Verhältnissen in Deutschland. Es werde darauf ankommen, den Wahlkampf hart an der Sache zu führen, aber ihn, so gut es geht, zu entideologisieren. "Sonst breiten sich Gerüchte oder gar Verschwörungstheorien aller Art aus". Und: "Wir müssen den Diskussionen, die etwa die Rechtspopulisten führen und die auf irgendwelchen Gefühlen basieren, entgegentreten." 

Den Einzug der AfD (Alternative für Deutschland) in den deutschen Bundestag werde man nach Lage der Dinge zwar nicht verhindern können. Aber: "Es geht darum, dass wir ihren Aufwuchs begrenzen." Die heutigen Rechtspopulisten seien ein anderes Kaliber als früher etwa die Republikaner. "Sie sind heute professioneller, in sozialen Netzen aktiv."

Angst vor Rechtspopulisten

Man dürfe aber nicht in Angst vor den Rechtspopulisten erstarren. Kretschmann hob hervor, dass es eine sehr aktive Bürgergesellschaft gebe. "Das haben wir in der Flüchtlingskrise gesehen." Und in Österreich habe mit Alexander van der Bellen ein Kandidat der Besonnenheit, der europäischen Orientierung und der Kompromissfähigkeit die Bundespräsidentenwahl gewonnen. 

Seit sich die Hinweise erhärtet haben, dass russisch eHacker den US-Wahlkampf beeinflusst haben, befürchten die Parteien in Berlin jedoch das Schlimmste für die Wahl 2017. "Gegen erfundene Nachrichten, Hass, Hetze gibt es keine techische Lösung", warnte SPD-Fraktionschef Thomas Oppermann. Daher die Forderung nach einem Fairnessabkommen.

Russische Störversuche

Der Chef des Bundesnachrichtendienstes, Bruno Kahl, warnte bereits Ende November davor, dass auch Europa, besonders Deutschland im Fokus von "Störversuchen" stehe. Die US-Sicherheitsbehörden warnen offen davor und ordnen diese Störversuche Russland zu, das Tausende E-Mails von Hillary Clinton gecrackt und der Plattform Wikileaks zugänglich gemacht habe, die diese dann mitten im Wahlkampf veröffentlichte. Doch die Bedrohung kommt auch von innen, durch das neue "Kommunikationsverhalten der Menschen", wie es Angela Merkel formulierte. "Wir Politiker müssen uns immer aufs Neue fragen, wie wir die Menschen erreichen."

Veles - Stadt der Lügner

Mittlerweile gibt es immer mehr, auch bezahlte, Gruppen im Netz, die in Foren und sozialen Netzwerken die Kommunikation der Nutzer stören und Propaganda verbreiten. Jüngstes Opfer in Deutschland war die grüne Bundestagsabgeordnete Renate Künast, der ein falsches Zitat untergeschoben und damit unterstellt wurde, sie fördere Flüchtlinge auch dann, wenn diese zu Mördern geworden seien. "Fake News" - Nachrichten, die irreführend oder erfunen sind, fanden im US-Wahlkampf ein breites Publikum.

Viele von ihnen kamen aus dem Ort Veles in der Nähe von Skopje in Mazedonien, wo sich eine "Fake News"-Industrie entwickelt hat. Die "Zeit" beschrieb den Mechanismus: Findige junge Menschen, mit den Mechanismen von Facebook vertraut, erstellen Websites und platzierten dort haarsträubende Nachrichten vor allem über Hillary Clinton, die sie irgendwo im Netz fanden. Sie konzentrierten sich in Sachen Verbreitung auf den amerikanischen Raum, die Seiten wurden millionenfach geklickt - und natürlich nicht auf ihren Wahrheitsgehalt überprüft.

Facebook zieht Reißleine

Die falschen Nachrichten machten Eindruck auf die Wähler. Die Mazedonier machten schnelles Geld mit vielen Klicks: von Facebook und Google gibt es Geld für die Werbung, die auf diesen Seiten platziert werden kann. Mindestens 500 bis 700 Euro im Monat - der Durchschnittslohn in Veles beträgt 150 Euro. Bis zu 70 Prozent der Jugendlichen sind arbeitslos. Das Erfolgsrezept sprach sich rasch herum. Die "Zeit" berichtet: 140 solcher Fake-Seiten waren zwischenzeitlich in Veles registriert. Hässlichkeiten über Clinton liefen besser als Hässlichkeiten über Trump. Daher hatte Trump plötzlich so viele Wahlhelfer aus Mazedonien.

Facebook und Google haben reagiert. Sie wollen den Profiteuren den Geldhahn abdrehen. Seiten, die falsche Inhalte verbreiten, fliegen aus den Werbeplattformen raus. Facebook-Chef Mark Zuckerberg hatte in den vergangenen Tagen wiederholt betont, die falschen News hätten aus Sicht des weltgrößten Online-Netzwerks den Ausgang der US-Präsidentenwahl nicht beeinflusst. Sie hätten nur ein Prozent der Inhalte ausgemacht, behauptete er am Wochenende. Unklar blieb, wie diese Zahl berechnet wurde. Facebook-Mitarbeitern habe sich angeblich inoffiziell zusammengetan, um auf eigene Faust den Einfluss der falschen News zu erforschen.

Datenmengen mit Algorithmus kombiniert

Der 34 Jahre alte Forscher Michael Kosinski hat bereits nachgeforscht, wie die Schweizer Publikation "Das Magazin" berichtet. Der Experte für datengetriebene Psychologie, kam zu seinem Erstaunen und Entsetzen drauf, dass ein Algorithmus, den er selbst seinerzeit für eine Firma namens Cambridge Analytica entwickelt hatte, systematisch im US-Wahlkampf zur Anwendung kam.  Das Revolutionäre an der Entwicklung: Enorme Datenmengen, die im Fall der USA für jeden, nur denkbaren, auch privaten Bereich zur Verfügung stehen, werden mit Computerprogrammen zu ausgewertet, dass jede Nachricht, auch wenn es eine falsche Nachricht ist, genau die User erreicht, die dafür offen sind.

Anhand von fünf Persönlichkeitsdimensionen, der so genannten "Ocean-Kriterien", lässt sich -  der Nachweis dafür gelang schon in den 1980ern -  der Charakterzug eines Menschen messen: Offenheit (Wie aufgeschlossen sind Sie gegenüber Neuem?), Gewissenhaftigkeit (Wie perfektionistisch sind Sie?), Extraversion (Wie gesellig sind Sie?), Verträglichkeit (Wie rücksichtsvoll und kooperativ sind Sie?) und Neurotizismus (Sind Sie leicht verletzlich?). Das Problem waren die Datenbeschaffung, umständliche Fragebögen, etc.

"Dann kam das Internet. Und Facebook. Und Kosinski", berichtet "Das Magazin". Per App, mit der man spielerisch sein Persönlichkeitsprofil ermitteln konnte, gaben die Anwender freiwillig Daten her, die mit allen möglichen anderen Daten aus dem Internet abgeglichen wurden. 2012 erbrachte Kosinski den Nachweis, dass man aus durchschnittlich 68 Facebook-Likes eines Users vorhersagen kann, welche Hautfarbe er hat (95-prozentige Treffsicherheit), ob er homosexuell ist (88-prozentige Wahrscheinlichkeit), ob Demokrat oder Republikaner (85 Prozent), etc.

Menschensuchmaschine war wahlentscheidend

Aber es geht nicht nur um die Likes auf Facebook: Kosinski und sein Team konnten inzwischen auch  Menschen allein anhand des Porträtfotos den Ocean-Kriterien zuordnen. Oder anhand der Anzahl der Social-Media-Kontakte. Mit dem Smartphone kamen die Bewegungsdaten dazu. Und man kann nicht nur aus Daten psychologische Profile erstellen, man kann auch umgekehrt nach bestimmten Profilen suchen, etwa im Wahlkampf nach allen noch unentschlossenen Demokraten. "Das Magazin" formuliert: "Was Kosinski genau genommen erfunden hat, ist eine Menschensuchmaschine."

Kosinski ahnte, wozu seine Erfindung missbraucht werden konnte, doch er konnte nicht verhindern, dass andere Gebrauch davon machten. "Mikrotargeting", das datengestützte, zielgruppengenaue Ansprechen von potenziellen Wählern, wurde zu einem wahlentscheidenden Instrument im US-Präsidentschaftswahlkampf. Durch das gezielte Platzieren von Informationen, auch Fake-News, wurden insbesondere Clinton-Wähler von der Wahlurne ferngehalten.

Deutschland bangt

Steve Bannon, Vorstandsmitglied der Datenfirma Cambridge Analytica und Herausgeber der ultgrarechten Onlinezeitung "Breitbart News" ist inzwischen zu Donald Trumps Chefstrategen ernannt worden. "Das Magazin" berichtet, die Firma Cambridge Analytica habe bereits Anfragen aus Deutschland für den Wahlkampf. Kosinski habe Tests durchgeführt, die belegten, dass die zielpersonspezifischen Postings die Clikrate von Facebook-Anzeigen um über 60 Prozent steigerten, und sich die "Kaufquote" nach Betrachten der Anzeige phänomenal  gesteigert habe.

Deutschland bangt. Ein Fairnessabkommen könnte zumindest die gezielte Anwendung aus politischer Motivation begrenzen. Wahlmanipulationen zur Gänze verhindern kann es vermutlich nicht.