Ein Vortrag über Ötzis Lendenschurz, den er im Kärntner Landesmuseum anlässlich einer Dessous-Ausstellung hielt, war für Paul Gleirscher der Auslöser, sich näher mit der berühmten Gletschermumie zu beschäftigen. Das vorläufige Endergebnis seiner Recherchen hat der Archäologe nun in der jüngsten Ausgabe der „Prähistorischen Zeitschrift“ veröffentlicht, mit zum Teil erstaunlichen Erkenntnissen über die Identität und den Todeskampf des berühmten Mannes aus dem Eis.

Es war schon früh klar, dass Ötzi keines natürlichen Todes gestorben ist. Über seine letzten Lebensstunden gibt es allerdings große Auffassungsunterschiede. Was hat sich vor rund 5200 Jahren auf dem Tisenjoch Ihrer Meinung nach zugetragen?
PAUL GLEIRSCHER: Schon die halb geöffneten Augen, der leicht geöffnete Mund mit der vorgeschobenen Zunge sowie die ausgestreckten Glieder weisen auf einen gewaltsamen Tod hin. Unter italienischen Forschern herrscht dabei die Meinung vor, dass Ötzi im Tal rituell ermordet wurde, mit Eispackungen konserviert und auf 3200 Meter Höhe bestattet wurde. Archäologische und medizinische Analysen, die ich miteinander kombiniert habe, ergeben allerdings einen völlig anderen Tathergang.

1991 in den Ötztaler Alpen entdeckt und heute das berühmteste Schaustück im Bozener Archäologiemuseum: die rund 5200 Jahre alte Mumie vom Similaun-Gletscher
1991 in den Ötztaler Alpen entdeckt und heute das berühmteste Schaustück im Bozener Archäologiemuseum: die rund 5200 Jahre alte Mumie vom Similaun-Gletscher © AP/Crepaldi

Nämlich?
GLEIRSCHER: Anhand der Verletzungen und der durch die Pollen im Darm ermittelten Aufenthaltsorte lassen sich die letzten zwei Tage im Leben von Ötzi recht genau rekonstruieren. Demnach hat er am Morgen vor seinem Tod im Bereich der Waldgrenze einen Brei zu sich genommen. Er steigt ins Tal hinunter, wohl zu seinem Dorf im Vischgau, gerät hier in einen Konflikt und erleidet eine schwere Abwehrverletzung an der rechten Hand. Er stärkt sich ein weiteres Mal und geht gegen Abend zurück zu seinem Unterschlupf an der Waldgrenze, ein Weg von 15 Kilometern und circa 1500 Höhenmetern. Am nächsten Morgen isst er dort erneut einen Brei, merkt, dass er verfolgt wird und steigt noch weiter ins Hochgebirge hinauf, bis zum Tisenjoch. Er isst dort ein letztes Mal, diesmal einen Brei mit Steinbockfleisch. Eine halbe Stunde später wird ihm, während er auf einer großen Steinplatte ruht, ein Pfeil in den Rücken geschossen. Doch stirbt er daran nicht unmittelbar, wie gemutmaßt wurde. Ötzi steht noch einmal auf und wird, wie ein Schädeltrauma nahelegt, niedergeschlagen. Beim Aufprall auf der Steinplatte reißt die Pfeilspitze die Aorta auf. Er stirbt an einem Kreislaufschock.

Am Ort seiner späteren Auffindung also?
GLEIRSCHER: Ja. Der Mörder hat ihn noch umgedreht – daher auch die komische Verrenkung des linken Arms – und den Pfeilschaft aus Ötzis Körper gezogen. Das muss zwischen Tod und Leichenstarre geschehen sein, weil das Schultergelenk völlig unversehrt geblieben ist. Die Ausrüstung des Mannes, einschließlich der kostbaren Axt, interessierte den Täter jedenfalls nicht.
Ötzi war also auch kein Opfer eines Raubmordes?
GLEIRSCHER: Nein. Statistisch gesehen ging es um eine Frauengeschichte oder um eine Rangstreitigkeit. Der Mord markierte vermutlich das Ende eines länger schwelenden Konflikts. An den Fingernägeln fand man nämlich sogenannte Beau-Reil-Querfurchen, die von Profilern als Hinweis auf monatelangen großen Stress gedeutet werden. Schon Tage zuvor war er auf der Flucht gestürzt und dabei, Pfeile und Bogen zu reparieren.

Was lässt sich über die Identität bzw. soziale Stellung von Ötzi sagen?
GLEIRSCHER: Alle Spekulationen, den Mann als Schamanen, Händler oder Erzsucher zu etikettieren, entbehren jeder Grundlage im Fundgut. Ötzi war auch kein Hirte. Das geht schon aus dem Besitz einer Axt mit kupferner Klinge hervor. Die Analysen des Dungs und der Tierhaare vor Ort ergaben keine Hinweise auf Weidetiere. Ötzi war vielmehr ein regionaler Anführer, der nie hart gearbeitet hat. Er hatte, wie man früher sagte, so Hände wie ein Pfarrer. Völlig schwielenlos. Auch sein gestreiftes Patchworkhemd, das man von Darstellungen auf Steinstelen kennt, weist auf einen feinen Herren hin.

Die neue Rekonstruktion im Archäologiemuseum in Bozen lässt aber eher an einen altersschwachen Almöhi denken.
GLEIRSCHER: Das finde ich total schade! So schaut ein Greis mit 70, 80 Jahren aus, aber kein vitaler Mann, der im Alter von ungefähr 45 starb.

ERWIN HIRTENFELDER