Sie überstand die Folter in den Kerkern der Militärdiktatur. Sie besiegte den Krebs. Nun kämpft Dilma Rousseff, suspendierte Präsidentin Brasiliens, um ihr politisches Überleben. Anfang Mai wurde sie vom Parlament für zunächst 180 Tage ihres Amtes enthoben. Ihre Gegner werfen ihr Haushaltstricks und Verletzung ihrer Amtspflicht vor. Nun droht die erste Frau an der Spitze des südamerikanischen Riesenlands endgültig aus dem Amt gejagt zu werden.

Der Präsident des Obersten Gerichtshofs, Ricardo Lewandowski, eröffnete heute eine Sondersitzung des Senats in Brasilia.

Rousseff freilich ist keine, die schnell aufgibt. "Ich hatte in meinem Leben mit enorm schwierigen Situationen zu tun - einschließlich Angriffen, die mich körperlich an die Grenze brachten", sagte die 68-Jährige. "Nichts davon hat mich umgehauen." In Rousseffs Aussagen spiegeln sich Kampfesmut und Durchhaltewillen wider.

Wegen ihres Kampfes gegen die Militärdiktatur war Rousseff in den 70er Jahren im Gefängnis gefoltert worden, mit Elektroschocks und anderem. Der Richter hatte sie in dem Urteil als "Hohepriesterin der Subversion" bezeichnet. Als die einstige marxistische Staatsfeindin dann vor sechs Jahren den Sprung ins höchste brasilianische Staatsamt schaffte, galt sie als neue Lichtgestalt. Sie hatte gerade einen Lymphdrüsenkrebs besiegt, hatte sich von Chirurgen verjüngen lassen, durch Akribie und Fleiß im Kabinett des populären Staatschefs Luiz Inacio Lula da Silva hochgearbeitet und war von ihm als Nachfolgerin auserkoren worden.

Korruption und Massenproteste

Doch hielt der Glanz nicht lange. Schon in ihrer ersten Amtszeit gab es Massenproteste. Die teure Fußballweltmeisterschaft, die stagnierende Wirtschaft, die harten Lebensbedingungen trieben das Volk gegen die als unbarmherzig empfundene Präsidentin auf die Straßen.

Hinzu kam eine gewaltige Korruptionsaffäre um den Staatskonzern Petrobras. Rousseff leitete von 2003 bis 2010 den Aufsichtsrat des Ölkonzerns. Sie war offenbar in die Schmiergeldzahlungen nicht direkt involviert. Politisch beschädigt hat sie die Affäre dennoch.

Gleichwohl schaffte sie 2014 knapp ihre Wiederwahl, in der Stichwahl setzte sich die Kandidatin der Arbeiterpartei mit 51,6 Prozent gegen den Liberalen Aecio Neves durch. Rousseffs Niedergang setzte sich jedoch fort, im Gleichschritt mit dem wirtschaftlichen Niedergang ihres Landes.

Schon im vergangenen Sommer sank ihre Zustimmungsrate auf knapp acht Prozent. Ihr wichtigster Koalitionspartner, die Partei PMDB ihres Stellvertreters Michel Temer, kündigte das Regierungsbündnis im März auf. Die Zusammenarbeit mit dem Kongress kam praktisch zum Erliegen, das ganze Land wirkte wie gelähmt - und das kurz vor den ersten Olympischen Sommerspielen in einem südamerikanischen Land.

Ihre Anhänger finden es ungerecht, Rousseff für all die Probleme verantwortlich zu machen. In der öffentlichen Meinung ist sie indes schon längst durchgefallen, immer wieder fordern zehntausende Demonstranten ihren Rücktritt. Dass ihr Charisma fehlt, ist noch der geringste Vorwurf. Mancher Kritiker spricht ihr politischen Instinkt ab und sieht in ihr einen typischen "Präsidenten aus Versehen" - weil es keine Alternative gab.

Doch die Tochter einer Brasilianerin und eines bulgarischen Geschäftsmanns, die eine Tochter hat und zwei Mal verheiratet war, gibt sich immer noch kämpferisch. In einem öffentlichen Appell an ihre Landsleute beteuerte sie vergangene Woche ihre Unschuld und verurteilte die Bemühungen zu ihrer Absetzung als Staatsstreich. Bei ihrer Anhörung kommenden Montag wird sie sich selbst verteidigen. Doch angesichts der Mehrheitsverhältnisse im Senat gilt ihr Verbleib im Amt als unwahrscheinlich. Dafür müsste nach Ansicht des Analysten Everaldo Moraes ein "Wunder" geschehen. Die Abstimmung im Senat ist für Dienstag geplant.

Kurz vor Beginn der letzten Etappe des Amtsenthebungsverfahrens hat Rousseff eine weitere juristische Schlappe hinnehmen müssen. Der Oberste Gerichtshof wies ihre Klage gegen eine Parlamentssitzung vor zwei Wochen zurück, bei der die Senatoren für die Einberufung eines förmlichen Tribunals gegen sie gestimmt hatten. Die Justiz könne nicht in die Entscheidungen des Kongresses eingreifen, erklärte der Präsident des Obersten Gerichtshofs, Ricardo Lewandowski. Seiner Meinung nach sei das Vorgehen des Senats ohnehin nicht als Verstoß gegen Rousseffs Rechte zu werten, fügte er hinzu. Die 68-Jährige war bereits mehrfach mit dem Versuch gescheitert, das parlamentarische Verfahren gegen sie zu stoppen.

Temer könnte Rousseff endgültig beerben. Der 75-jähriger Politik-Veteran genießt zwar kaum Rückhalt in der Bevölkerung, könnte aber nach der Senatsentscheidung bis Ende 2018 im Amt bleiben. Schon seit Mai führt Temer als Übergangspräsident die Amtsgeschäfte der suspendierten brasilianischen Präsidentin. Sollte Dilma Rousseff endgültig abgesetzt werden, könnte der 75-Jährige als Sieger dastehen. Doch das gellende Pfeifkonzert bei seiner Eröffnungsrede für die Olympischen Spiele führte der Weltöffentlichkeit vor, wie wenig Rückhalt er in der Bevölkerung hat. Der Anwalt war an die Staatsspitze getreten, nachdem der Senat Rousseff suspendiert hatte. Seine Antrittsrede als Übergangspräsident war allerdings schon Wochen vorher an die Öffentlichkeit gelangt, was ziemlich peinlich für den bisherigen Vize-Präsidenten war. Doch Temer hatte den Bruch mit Rousseff schon im Dezember in einem "persönlichen Brief" an die Präsidentin vollzogen. Voller Bitterkeit warf er ihr vor, ihn stets verachtet und als "Staffage" behandelt zu haben. Auf Anrufe aus dem Präsidentenpalast reagierte er fortan nicht mehr.

Rousseff wiederum stellte ihrem Vize ein miserables Charakterzeugnis aus. Ein "Verräter" sei Temer, schimpfte Rousseff nach Bekanntwerden seiner Antrittsrede, er sei der "Chef einer Verschwörung". Temer übernahm für zunächst bis zu 180 Tage kommissarisch das Präsidentenamt. Sollte Rousseff nach den Anhörungen der kommenden Tagen endgültig durch den Senat abgesetzt werden, könnte er bis Ende 2018 im Präsidentenpalast bleiben.

Temer ist kein populistischer Caudillo, der die Massen mitreißt. Eher entspricht er dem Typ des gerissenen Fuchses, der Chancen zu nutzen weiß. Ende März ließ Temers rechtsliberale Partei der demokratischen Bewegung (PMDB) das Regierungsbündnis mit Rousseffs Arbeiterpartei (PT) platzen - und leitete damit die Entmachtung der Präsidentin ein.

Seit 15 Jahren ist Temer Vorsitzender der PMDB, die an sämtlichen Regierungen seit 1994 beteiligt war. Im vergangenen Herbst legte er einen wirtschaftspolitischen Entwurf mit dem Titel "Eine Brücke in die Zukunft" vor. Darin ging er mit Rousseffs linker Arbeiterpartei hart ins Gericht und warf dem Koalitionspartner "Exzesse" und "Verschwendung" vor. Seine Gegenrezepte: rigide Sparpolitik, Steuererleichterungen für Reiche, Stopp der Sozialprogramme für die Ärmsten der Armen.

Die Bürger interessieren sich kaum für Temers programmatische Vorstellungen. Wollte er direkt ins Präsidentenamt gewählt werden, wäre er chancenlos: In Umfragen kommt er auf ein bis zwei Prozent der Wählerstimmen. In scharfem Kontrast dazu steht Temers Selbstwahrnehmung. In seiner vorgefertigten Antrittsrede bezeichnet er es als seine "große Mission", das Land "zur Ruhe zu bringen und zu einen".

Temer wurde 1940 im Bundesstaat Sao Paulo als Sohn libanesischer Einwanderer geboren, als jüngster Spross von insgesamt acht Geschwistern. Er profilierte sich als Verfassungsrechtler und war wiederholt Präsident des Abgeordnetenhauses. Die Brasilianer wissen über den 75-Jährigen vor allem, dass er mit einer Jahrzehnte jüngeren Schönheitskönigin verheiratet ist. Temer hat bereits fünf Kinder aus vorherigen Ehen.

Die meisten Wähler wünschen, dass Temer ebenso wie Rousseff aus dem Amt scheiden möge. Und es ist nicht ausgeschlossen, dass auch gegen Temer ein Amtsenthebungsverfahren eingeleitet wird - wegen der Verwicklung in Korruptionsaffären. Aus diesem Grund traten bereits mehrere Minister seiner Übergangsregierung kurz nach der Ernennung wieder zurück.