Jede österreichische Familie hat ihre eigene Geschichte von Kriegsweihnachten, und es ist im Grunde immer dieselbe. In einem an Peter Rosegger gemahnenden Ton handelt sie von verletzten Vätern, aufopfernden Müttern und dankbaren Kindern, von Bescheidenheit und Genügsamkeit. Es ist eine Geschichte, die einen stets mit schlechtem Gewissen und der Frage, ob man die selbst gestrickten Geschenke der Großtante wahrhaftig genügend zu würdigen weiß, zurücklässt. Auf einmal scheint es, als würde der Krieg nur die edelsten Seiten der Menschen hervorkehren, obwohl es in Wahrheit doch umgekehrt ist, und wir Friedenskinder, so glauben wir, sind des Weihnachtsfestes eigentlich gar nicht würdig.

Die Kriegsweihnachtsgeschichte meines Großvaters ist da nicht nur anders, sondern sogar das genaue Gegenteil: Sie ist ein Plädoyer für die angemessene Undankbarkeit, den harten Zeiten zum Trotz. Wie so viele Kriegserinnerungen beginnt sie mit einem Brief von der Ostfront. Darin teilt der Vater meines Großvaters der Mutter meines Großvaters mit, dass er durch seinen hohen militärischen Rang oder auch anderswie (so genau ist das nicht mehr überliefert) an eine Gans gekommen ist, welche er ihr und den Söhnen für das Weihnachtsmahl schicken will. Sofort liest die Mutter das den beiden Buben vor, die noch nicht in die Schule gehen und daher auch noch nicht lesen können. Ihre Freude ist ansteckend, rasch sind auch die Kinder davon überzeugt, dass eine Gans das Allerbeste ist, was einem passieren kann.

Erst jetzt bemerkt die Mutter, dass das Datum dieses Schreibens schon zwei Monate zurückliegt: Der Vater hat im Oktober geschrieben und nun ist es Anfang Dezember. Das ist nicht weiter verwunderlich, andere Briefe haben schon länger gebraucht, aber diese Erkenntnis bringt die Mutter zu einer weiteren: Die Gans wird niemals ankommen. Denn angenommen, ihr Mann habe die Gans wirklich abschicken können, was schon einmal nicht sicher ist, so würde sie in einer Eisenbahn die feindliche Sowjetunion und das kriegstreibende Europa durchqueren, sie würde durch die Hände vieler hungriger Arbeiter gehen, und selbst wenn sie trotz alledem heil ankommt, wäre sie sicherlich verdorben. Also sagt die Mutter den Buben, dass sie die Gans wieder vergessen sollen, und wendet sich enttäuscht ihrer Handarbeit zu. Aber was sich einmal in einem Kinderkopf festgesetzt hat, lässt sich von dort nicht mehr so schnell vertreiben: Mein Großvater und sein Bruder verbringen die düsteren Dezembertage damit, sich die Gans zu auszumalen. Keiner von den beiden hat je Gänsefleisch gegessen, mein Großvater ist 1938 geboren und sein Bruder noch später, die Kriegsdiät ist ihre gewohnte Kost, und alles, was darüber hinausgeht, ein Wunder. Es ist einer dieser Kriegswinter, in dem es an allem mangelt außer an Schnee, und mein Großvater stellt sich abends am Fenster stehend vor, dass die Schneeflocken Gänsefedern sind. Und wenn der Pfarrer in der Kirche davon spricht, dass das Wort Advent „Ankunft“ bedeutet, denkt mein Großvater nicht mehr an den Messias, sondern an die Gans. Die Mutter hat allerhand zu tun, denn jedwede Besorgung ist mühsam, und so denkt sie überhaupt nicht mehr an den Brief, als plötzlich ein Bote vor der Wohnungstür steht, in seinen Armen ein Ungetüm. Sofern die Gans noch gelebt hat, als der Vater sie abschickte, ist sie zwar verendet, mitnichten aber verdorben: Der Winter hat sie tiefgefroren und sie die Fahrt in aller Frische überstehen lassen. Die Mutter schickt ein Dankgebet zum Himmel und macht sich an die Arbeit.

Am Heiligen Abend dringt der deftige Geruch durch das ganze Haus, manch einer bleibt im Gang kurz stehen und schnuppert neidisch. In ihrer Wohnung serviert die Mutter den beiden Buben stolz den saftigen Leib der sowjetischen Gans. Und tatsächlich ist es das Köstlichste, was die Kinder je gegessen haben. Zum ersten Mal überhaupt dürfen sie so oft Nachschlag nehmen, wie sie wollen. „Das ist das schönste Weihnachten“, sagt der Bruder, und mein Großvater nickt. Am nächsten Tag erwachen sie so satt wie schon lange nicht mehr, sie beschäftigen sich eine Zeit lang mit ihren ausschließlich nützlichen Geschenken und haben eigentlich noch gar keinen rechten Hunger, als sie fragen, was es zum Mittagessen gibt. „Gans“, sagt die Mutter. Wieder langen sie ordentlich zu, nun aber schon mit einer dunklen Vorahnung im Hinterkopf, die das Kauen etwas erschwert. Auch am Stephanitag gibt es Gans. Und am Tag darauf. Und wieder. Immerhin muss der ganze fette Vogel verwertet werden, bevor die erste Frühlingsmilde sein wertvolles Fleisch verdirbt, und eine zarte Frau mit zwei kleinen Kindern nagt daran lange. Bald fragen die Buben gar nicht mehr, die Mutter stellt ihnen stumm und beharrlich die Teller hin, mit Disziplin isst sie selbst und die Buben tun es ihr gleich, weil sie andernfalls Bestrafung fürchten, und zu Recht. „Herrlich!“, sagt die Mutter, wenn sie die Gabel weglegt, und jedes Mal sagt sie es etwas lauter. Mein Großvater kann die Gans schon am dritten Tag nicht mehr sehen. Er verflucht alles Geflügel und die Sowjetunion, die offensichtlich tatsächlich so unheilbringend ist, wie im Radio immer behauptet wird. Das anfangs angenehme Sättigungsgefühl weicht dem Ekel, nostalgisch erinnert er sich an die Zeiten zurück, als es zu Mittag noch Kartoffeln gab. Er weiß gar nicht mehr, wie Kartoffeln schmecken.

Auch zu Silvester gibt es Gans. „Herr-lich!“, brüllt die Mutter nun beinahe schon. Als sie am Neujahrsmorgen wie jedes Jahr in die Kirche gehen, fällt meinem Großvater zum ersten Mal der steinerne Engel auf, der am Portal steht. Eine schöne Figur, denkt mein Großvater, bis er die Flügel erblickt: Der Engel hat Gänseflügel! Und da wird meinem Großvater so übel, dass er sich auf der Stelle übergeben muss, mitten hinein in das Gedränge der Gläubigen. „Krieg hin oder her“, erzählt mir mein Großvater Jahrzehnte später, „in diesem Moment habe ich mir geschworen, niemals wieder Geflügel zu essen. Nicht einmal einen Engel!“ Und zumindest an Letzteres hat er sich bis heute gehalten.

Irene Diwiak
Irene Diwiak © Diwiak