Gibt es einen Imageschaden für die Olympischen Spiele durch die jüngste Dopingdiskussion rund um die russische Mannschaft?
KLAUS ZEYRINGER: Schon, aber die olympische Bewegung ist immer noch ziemlich stark, weil sie von vielen einflussreichen Personen – vorwiegend Männern – getragen wird. Es hat übrigens bis 1981 keine einzige Frau im Olympischen Komitee gegeben. Und: Das IOC hat Glück, dass der Weltfußballverband FIFA nachweislich noch korrupter ist.

Glauben Sie an einen Selbstreinigungseffekt?
ZEYRINGER: Nein. Erfahrungsgemäß ist es in der Geschichte immer so vonstattengegangen, dass man kleine Maßnahmen gesetzt hat, um nach außen einigermaßen – ohne ganz rot zu werden – behaupten zu können, man sei geläutert. Das Problem ist, dass es keine Kontrolle gibt. Es gibt keine demokratischen Regeln. Wer ins Olympische Komitee kommt, bestimmen die, die schon drinnen sind. In den meisten Fällen wählt eine Tafelrunde keine Ruhestörer. Es sind Systeme, die in sich funktionieren. Im besten Fall herrscht dort eine völlig andere Wahrnehmung der Wirklichkeit, weshalb man die Kritik nicht versteht und meint, man arbeite zum Wohle der Menschheit.

Im realistischen Fall wissen die Betroffenen aber, dass rechtlich nicht alles blitzsauber ist.
ZEYRINGER: Ob sie das alle so genau wissen, weiß ich nicht. Zumindest bei einigen bin ich mir aber sicher.
Wie sehr spiegelt der Sport die Gesellschaft wider?
ZEYRINGER: Sport und Gesellschaft beeinflussen und bedienen sich gegenseitig. Wenn eine Gesellschaft korrupt funktioniert, funktioniert wohl auch der Sport nicht gerade sauber. Wir sind eine „Brot und Spiele“-Gesellschaft, für die manche Werte nicht ganz klar sind: Was bedeutet zum Beispiel Leistung? Es ist nicht ganz klar, was man einsetzen darf, um die Leistung zu steigern.

Das ist schon klar: Wer zu Medikamenten oder Techniken greift, die auf der Dopingliste stehen, begeht einen Regelbruch.
ZEYRINGER: Es gibt aber immer neue Medikamente, die nicht auf der Liste stehen. Und auch die Einstellung zum Doping hat sich geändert. In Frühzeiten der Olympischen Spiele haben Ärzte festgestellt, dass Doping sich positiv auf die Leistung auswirkt – und sie fanden es toll. Heute besteht ein gesellschaftlicher Konsens, dass diese Art von Doping nicht in Ordnung ist, weil es eine Form von Betrug ist.

Doping, Wettskandale, Korruption: alles bekannte Phänomene rund um Sportgroßveranstaltungen. Ist es die Geschichte eines Selbstbetrugs?
ZEYRINGER: Das ist zu negativ gesagt. Ich glaube schon, dass der Gründervater der Olympischen Spiele der Neuzeit, Pierre de Coubertin, wirklich gemeint hat, er könne eine Erziehung der Jugend durch Olympische Spiele schaffen. Aber sein Ideal hat nie funktioniert. Die ganze Geschichte der Olympischen Spiele und des Sportbetriebs in der Welt ist die Geschichte einer enormen Diskrepanz zwischen Ideal und Realität.

Trotzdem wächst das Publikumsinteresse. Lässt sich die Gesellschaft gerne anlügen?
ZEYRINGER: Ich bin da selbst eine gespaltene Persönlichkeit: Einerseits finde ich es hoch problematisch, was da läuft. Zum Beispiel die finanziellen Relationen: Dass ein durchschnittlicher Spieler von Bayern München 30-mal so viel verdient wie die Bundeskanzlerin, das geht nicht und sagt sehr viel über die Werte einer Gesellschaft aus. Bei allem, was bekannt ist, dürfte man also keine Fußballspiele oder olympische Wettkämpfe mehr anschauen. Aber ich tue es trotzdem, weil es faszinierend ist. Ich blende das Negative aus.

Wie ist das Verhältnis von Show zu sportlicher Leistung? Braucht es immer Rekorde, oder reicht ein spannender Wettkampf?
ZEYRINGER: Bestleistungen gehören dazu, sind aber nicht unabdingbar. Manchmal reicht die Show. Dramaturgie ist wichtig.

Schafft Sport noch Zugehörigkeit?
ZEYRINGER: Ja, das ist durch die Mediatisierung der Gesellschaft noch viel stärker geworden. Man kann das am Jubel der Sieger beobachten. Dass sich einer nach einem Triumph in eine Nationalflagge wickelt, das hat es in den 1950er-Jahren nicht gegeben.
Besteht nicht die Gefahr, dass Sport politisiert wird?
ZEYRINGER: Freilich. Sport und Politik lässt sich nicht trennen. Das ist ja der große Schmäh der olympischen Bewegung, dass sie behauptet, Olympische Spiele könnten unpolitisch sein. Das war nie der Fall.

Ein Beispiel?
ZEYRINGER: Es gibt Verträge, laut denen die Wettkampfstätten exterritoriales Gebiet sind. Hoheitsrechte der Staaten werden so außer Kraft gesetzt. Gerade im Zuge der aktuellen Flüchtlingsströme wird immer wieder argumentiert, Staaten müssten kontrollieren können, wer über ihre Grenzen kommt. Bei Fußball-Weltmeisterschaften und Olympischen Spielen aber müssen alle, die auf der Liste des IOC genannt werden, ohne Weiteres ins Land einreisen können – ohne Visum. Die olympische Akkreditierungskarte gilt wie ein Diplomatenpass.

Wird der Sport für politische Propaganda missbraucht?
ZEYRINGER: Das ist nicht neu. Schon bei den ersten Spielen 1896 hat das Osmanische Reich protestiert, weil gemeint wurde, die Spiele seien Anlass, die Griechen aus aller Welt nach Athen zu holen, um um Kreta kämpfen zu können. Tatsächlich ist die griechische Armee 1897 in Kreta einmarschiert.

Verliert der Sport an Stellenwert, wenn derartige Verstrickungen – politische und wirtschaftliche – sichtbar werden?
ZEYRINGER: Nein, das glaube ich nicht. Nur das Umfeld, die Technik und das Material sind andere. Der Stellenwert des Sports ist durch die Moderne gewachsen, durch die Entwicklung der Medien, die Industrialisierung, den Kapitalismus und durch die Konfrontation der politischen Lager.

Ist es marketingtechnisch kein Nachteil, dass nur alle vier Jahre Spiele stattfinden?
ZEYRINGER: Das ist der Geburtsfehler von Olympia. Es gab sogar einmal den Plan, die Olympischen Spiele auf die Jahreszeiten aufzuteilen, also Frühlings-, Sommer-, Herbst- und Winterspiele zu veranstalten, um diese Bühne öfter bespielen zu können.

Demgegenüber stehen aber Absagen möglicher Austragungsorte.
ZEYRINGER: Es hängt davon ab, wie groß der Beteiligungsgrad der Bevölkerung an Entscheidungen ist. So wie die Spiele funktionieren, passen sie eher zu Staaten, die keine demokratischen Gepflogenheiten haben.