Sie sind Aliens. Das Wort "Alien" jedenfalls steht auf ihren Pässen, und tatsächlich erscheinen diese grauen Dokumente wie aus einer anderen Welt. Zumindest nicht wie jene von Bürgern der Europäischen Union. Mehr als 80.000 Bewohner Estlands haben einen solchen Pass. Er macht sie weder zu Bürger Estlands noch eines anderen Staates. Im Grunde sind sie Staatenlose, die dennoch die meisten Vorzüge als Bürger der Europäischen Union genießen: Reisefreiheit, zum Teil auch Arbeitsfreiheit. Sie dürfen an lokalen Wahlen teilnehmen, an staatlichen jedoch nicht.

Was sie von den Esten unterscheidet? Sie haben nach dem Zerfall der Sowjetunion und der Wende 1991 nicht ausreichend Estnisch gelernt, um als Staatsbürger anerkannt zu werden. Viele von ihnen - oder deren Eltern - waren nach 1944 von den Sowjets als Teil des Russifizierungsprozesses im Gebiet des heutigen Estland angesiedelt worden. Esten sind sie nicht, Russen auch nicht.

Esten könnten sie zwar werden, wenn sie Sprachtests absolvieren - aber das können oder wollen viele nicht. Rund 100.000 anderer Russischsprachige haben sich für den russischen Pass entschieden. "Viele Leute hier sind in einer Identitätskrise", sagt Sergei Metlev. Der 22-Jährige ist eine Art Integrationsfigur in der gespaltenen Gesellschaft des nördlichsten baltischen Staates.

Sergei steht für die neue russischsprachige Generation Estlands, die Pragmatiker, die nur noch indirekt durch die Kriegsvergangenheit geprägt ist. "Ich bin 1991 am Tag der Unabhängigkeit geboren", sagt er schmunzelnd. Mit der NGO "Open Republic" setzt er sich für die Integration der Jugend in Estland ein, vor allem auch für die russischsprachige, versucht, sie in die Gesellschaft einzubinden und ihnen Perspektiven aufzuzeigen. Denn für viele Junge, sagt Sergei, sei Estland ein "schwarzes Loch".

Keine Wiederkehr

Besonders trifft das auf die Russischsprachigen zu. Sie gehen besonders oft weg aus dem Land - und kehren seltener zurück als andere. Für Sergei ist es selbstverständlich, Estnisch zu sprechen. Im Gegensatz zur älteren Generation sei das für viele andere Junge aus der russischen Minderheit auch so, sagt er. Dennoch: Die Arbeitslosigkeit unter den jungen Russischsprachigen ist höher, was, so Sergei, auch daran liege, dass viele Estnisch nur auf Alltagsniveau beherrschen.

Eduard Odinets kann das nicht verstehen. Sein Estnisch ist perfekt. "Ich bin Este, aber meine Muttersprache ist Russisch", sagt er. Er sagt aber auch: "Für mich ist, was das betrifft, nicht meine Familiengeschichte wichtig, sondern wo ich jetzt hingehöre. Und das ist Estland." Heute denkt er sogar in Estnisch. Seine Familie hat nie in Russland gewohnt, Eduard ist in Kohtla-Järve aufgewachsen, einer Industriestadt im Nordosten des Landes, in der 60 Prozent russischsprachig sind. Noch weiter östlich, in Narva, sind es sogar 94 Prozent - über eine Brücke kann man hier direkt nach Russland fahren. Die russische Minderheit in ganz Estland macht immerhin fast 30 Prozent der Bevölkerung aus.

Eine Prinzipienfrage

Eduards Eltern hingegen sprechen kein Estnisch oder zumindest nur ein paar Brocken. Sein Vater hat einen "Alien"-Pass und das werde sich auch nicht mehr ändern, sagt Eduard. Es sei eine Prinzipienfrage. "Mein Vater will diese Sprachexamen nicht machen, er meint: Ich bin hier geboren, es wäre doch sonderbar, um Erlaubnis für die Staatsbürgerschaft meines Heimatlandes zu bitten", erzählt der Sohn, der im Kulturministerium arbeitet und auch Kurse für Estnisch als Fremdsprache organisierte.

Tatsächlich ist die Gegend in und um Narva eine andere Welt. Russische Bauweise, russisches Fernsehen, russische Alltagssprache. "Die Leute sagen: ?Morgen fahren wir nach Estland', wenn sie in die Hauptstadt Tallinn wollen", erzählt Eduard.

Der Einfluss Russlands ist nach wie vor stark. "Viele russischsprachige Esten lieben Putin", erzählt Sergei Metlev. Dabei seien viele in ihrem Leben noch nie in Russland gewesen. "Es ist eine angenehme Position, in der EU mit all ihren Vorzügen zu leben und Putin toll zu finden."

Bis heute leben die beiden Gruppen in Estland meist nebeneinander her, besuchen auch getrennte Schulen. Integrationshilfe kommt seit dem Vorjahr aus Tallinn. Viele sehen sie aber eher als unerwünschten Zwang. Die Regierung hat nämlich beschlossen, dass an allen Gymnasien in Estland zu mindestens 60 Prozent auf Estnisch unterrichtet werden soll - also auch in jenen Schulen, die nur von Russischsprachigen besucht werden. Das hat Proteste hervorgerufen, von Eltern und Lehrern. Auch, weil viele Pädagogen mangels ausreichender Sprachkenntnisse um ihren Job fürchten.

Unter der Oberfläche

Derzeit ist es ruhig und beschaulich in Estland. "Wir sind eben ein kleines Land", sagen die Leute gerne. Wie leicht die Oberfläche aufbrechen kann - und wie groß der Einfluss des Kreml auch heute ist - hat sich 2007 gezeigt. Ein Mann starb bei Krawallen, als ein sowjetisches Kriegerdenkmal im Zentrum Tallinns demontiert und auf einem Friedhof wiedererrichtet wurde.

Für viele Russischsprachige in Estland war diese Demontage ein Affront. Die estnische Regierung hatte hingegen argumentiert, die Statue sei Sammelplatz für anti-estnische Radikale geworden. Die Erinnerungen an 46 Jahre sowjetische Besetzung Estlands sind bei vielen, vor allem bei den Älteren, noch lebendig. Spannungen mit Moskau folgten. Die Art, wie er Vorfall danach im estnischen und russischen Fernsehen interpretiert wurde, hätten unterschiedlicher nicht sein können.

Dieser Bericht ist im Rahmen von "eurotours 2013" entstanden - ein Projekt der Europapartnerschaft, finanziert aus Gemeinschaftsmitteln der Europäischen Union.