Dort stellten sich neben Punischer-Riekmann auch Claus Raidl, Chef der Österreichischen Notenbank, die Leiterin des in Wien angesiedelten Go-Governance-Instituts, Melanie Sully, und der Schriftsteller Robert Menasse die Frage nach den Auswirkungen eines Brexits. Organisiert wurde das Gespräch erstmals in einer Kooperation des Außenministeriums mit der Österreichischen Gesellschaft für Europapolitik.

"Die Debatte über den Brexit ist kurzfristig Zynismus und längerfristig Zeitverschwendung", analysierte Robert Menasse die aktuelle Situation. Die EU befinde sich aktuell in einer existenziellen Krise - und trotzdem diskutiere man über Ausnahmeregelungen. Sollte die "Zentrifugalkraft innerhalb der Union" zu einem Zerbrechen führen, so wären die "aktuellen Diskussionen vergeudete Zeit".

Man habe so "viel Geduld für die nationalen Schrullen Englands aufgebracht" - nun sei es für die Briten an der Zeit, sich endlich zu entscheiden, und zwar "ohne langes Diskutieren". Menasse befürchtet außerdem, dass sich die aktuelle Krise der EU-Staaten verschärfen würde, wenn sich England für einen Austritt entscheiden könnte - eine Möglichkeit, die auch er durchaus für gegeben hält: "England ist drollig genug, um der EU den Rücken zuzukehren", meinte Menasse am Podium.

"Love it or leave it" ("Liebe es oder lass es"), das hätte auch der Chef der Österreichischen Nationalbank, Claus Raidl, vor einigen Jahren noch so proklamiert, wie er am Dienstagabend selbst meinte. Jetzt sei eine solche Aussage aber durchaus mit Vorsicht zu tätigen, sagte Raidl. So könnten die Auswirkungen eines Brexit auch für die Europäische Union fatal sein. "Desintegration und Re-Nationalisierung könnten die Folgen sein", schließlich traue er den Niederlanden und Dänemark ähnliche Vorhaben zu, "wenn das bei England mal funktioniert hat". Man müsse alles tun, um England in der Union zu halten - sonst "könnte die EU zu verfallen beginnen".

Außerdem, so sind sich Menasse und Raidl einig, spiele ein möglicher Brexit den rechtspopulistischen Kräften innerhalb der EU in die Hände. "Wenn die Briten gehen, haben die Rechten Aufwind", meinte Raidl und warnte vor rechtspopulistischen Slogans frei nach dem Motto "Let's do it like England" ("Machen wir's wie England"). Raidl schätzte die Gefahr eines wieder erstarkenden Nationalismus in den EU-Mitgliedsstaaten als durchaus gegeben ein.

Auch Puntscher-Riekmann sieht verstärkt den Wunsch nach Neuverhandlung in vielen Staaten: "Das brodelt schon lange. Man muss sich fragen, warum ist sich selbst jeder jetzt der nächste?" Der Grund dafür könnte in der Eurokrise zu suchen sein, damals sei "viel Porzellan zerschlagen worden". Dennoch müsse man die Einzelstaaten davor hindern, auszutreten: "Die einzelnen Mitgliedsstaaten spielen keine Rolle mehr, das muss uns bewusst werden", so Puntscher-Riekmann.

"Den Engländern geht es eh nur um ihre wirtschaftlichen und politischen Eliten", kritisierte Robert Menasse. Auch Melanie Sully bestätigte diese Sichtweise: "Im Land ist die Frage über die EU ein Elitethema." Als weiteres Problem der Brexit-Abstimmung nannte die britische Politologin auch die Wahlbeteiligung: Gerade junge Wähler, die Schicht mit der meisten emotionalen Bindung zur EU, würden eher wahrscheinlich nicht abstimmen wollen. Ähnlich könnte es den tendenziell EU-befürwortenden Schotten gehen. Wird das Referendum tatsächlich am 23. Juni durchgeführt - der Tag, der augenblicklich im Raum steht - so könnte das eine ungünstige Wirkung auf die schottische Wahlbeteiligung haben, da zwei Tage später die Sommerferien beginnen. Gerade bei diesem Referendum sei aber eine hohe Wahlbeteiligung wichtig, damit die demokratische Legitimität gegeben sei, gab Sully zu bedenken.

"Es muss deutlich werden, dass das Verlassen der EU Konsequenzen mit sich trägt", so Sully. Schließlich hätte die EU "alles gemacht, um das Land in der Familie zu halten". Man müsse weitere Desintegration innerhalb der EU verhindern, so die britische Politologin. Sully stellte sich auch die Frage, ob sich das Referendum nicht zu einem "Neverendum" ausweiten könnte, sollte sich die EU im Falle eines Verbleibs nicht oder nur unzureichend an die Forderungen halten. In diesem Fall sieht Sully durchaus die Möglichkeit eines weiteren Referendums gegeben. Zudem sei auch unklar, was unter einer neuen Regierung nach David Cameron passieren würde. So könne man keineswegs sicher gehen, dass diese neue Führung des Landes im Zweifelsfall nicht versuchen würde, die Entscheidung umzukehren, um zur EU zurückzukehren. "Nur wegen diesem einen Referendum ist noch lange nicht alles fix", betonte Sully.

Sollte sich Großbritannien gegen einen Verbleib in der EU entscheiden, seien aber laut Sully "40 Jahre Mitgliedschaft auch nicht einfach aus dem Fenster zu werfen". Zwar wäre es dann eine "komplizierte Herausforderung" mit der neuen Situation umzugehen, aber "man würde schon eine Lösung finden, um eine friedliche Koexistenz aufzubauen", zeigte sie sich zuversichtlich.