Das Paul-Weiland-Haus in Baden bei Wien gleicht den anderen Gebäuden der Stadt: Altbau, großzügig geschnitten und topsaniert. Doch im Inneren des Hauses, das von Grünflächen umrahmt ist, wohnen keine Wien-Pendler, sondern 200 Asylwerber. Seit vorletztem Sonntag fehlt ein Bewohner des von der Diakonie betreuten Hauses: der elfjährige Afghane Wais Khan H. – er nahm sich am 12. November in der Unterkunft das Leben.

Seit dem Tod des Buben gehen die Wogen hoch. Denn es steht die Frage im Raum, ob Behördenversagen ein Mitgrund für den Suizid war.

Der Reihe nach: Wais lebte mit seinen sechs Geschwistern – sein neun Jahre alter Bruder hat Downsyndrom – seit 2015 im Flüchtlingsheim in Baden. Die Eltern der sieben Kinder sind beide tot, dem ältesten Bruder (23) wurde die Obsorge für alle Kinder zugesprochen, nachdem er sie selbst beantragt hatte. Doch der 23-Jährige war mit der Versorgung seiner Familie überfordert, der elfjährige Wais sprang ein. Er übernahm Behördengänge, übersetzte für seine Geschwister und kümmerte sich um sie.

Diakonie und Konrad warnten 

Doch Ende April 2016 zeigt sich, dass auch der Einsatz von Wais nicht genug war. Der Bruder mit Downsyndrom wird mehrfach von der Polizei aufgegriffen, weil er unbeaufsichtigt durch Baden spazierte – die Polizei meldet das der Bezirkshauptmannschaft (BH) Baden. Diese stellt der Familie daraufhin eine Erziehungsberaterin zur Seite, der Neujährige bekommt einen Hortplatz. Da dieser aber mehrfach – nicht rechtzeitig oder überhaupt nicht – von der Schule abgeholt wird, schaltet sich der damalige Flüchtlingskoordinator Christian Konrad ein.

In einer Mail, die der Kleinen Zeitung vorliegt und die er an seinem letzten Amtstag verschickt hatte, fordert er die „umgehende Obsorgeübernahme durch die Kinder- und Jugendhilfe“. Im Dezember meldet sich auch die Diakonie, die die Kinder betreut, und warnt vor einer Gefährdung der sieben Geschwister. Acht Monate vergehen, bis die BH im August dieses Jahres reagiert. Man sehe keine Gefährdungslage, die es rechtfertigen würde, dem 23-Jährigen die Obsorge entziehen zu wollen. Die endgültige Entscheidung darüber müsste ein Gericht treffen, die Obsorge will die Behörde aber nicht beantragen.

Die BH, die nach dem Tod von Wais nun in Bedrängnis geraten ist, wehrt sich gegen die Anschuldigung, zu wenig für das Wohl der sieben Kinder unternommen zu haben. Die Geschwister seien aufgrund der Behinderung des Neunjährigen extra im Weiland-Haus untergebracht worden, das eine spezielle Betreuung anbietet. Zudem wurden der Familie zusätzliche „Unterstützungsleistungen“ zur Verfügung gestellt. Das bedeute, dass die Diakonie viel Geld für die Betreuung der Familie erhalten habe, heißt es hinter vorgehaltener Hand aus der BH, die damit den Ball zurück an die Diakonie spielt. Diese darf sich zum Fall jedoch nicht äußern, ein Vertrag mit dem Land Niederösterreich verpflichtet die Mitarbeiter des Flüchtlingsheimes zur Verschwiegenheit.

Ladendiebstahl 

Während die Tür der Zuständigen an diesem Vormittag also verschlossen bleibt, tritt der 18-jährige Saki Mohammadi aus dem Heim und macht sich auf den Weg zum Bus, der ihn in das Zentrum von Baden bringt. Auch Saki kommt aus Afghanistan, er kannte Wais, hat mit ihm ab und zu Fußball gespielt. Wer ihn über Wais sprechen hört, dem fällt sein gutes Deutsch auf. „Wais konnte aber noch viel besser Deutsch als ich, er war fleißig“, erzählt Saki und schaut kurz gedankenversunken zu Boden. Die Nachricht vom Tod des Buben habe im Heim schnell die Runde gemacht, erzählt er, genau wie Theorien über den Grund für seinen Selbstmord. „Die einen sagen, es war ein schlechtes Interview bei der Asylbehörde“, erklärt er. „Die anderen glauben, er hatte Probleme in der Schule.“ Auf die Frage, ob familiäre Überforderung der Grund für seinen Suizid sein könnten, schüttelt Saki verwirrt den Kopf. „Nein, warum? Das war ja einfach seine Aufgabe.“

In der Berichterstattung über den Fall des Elfjährigen scheint außer Frage zu stehen, dass der Tod des Buben etwas mit der Familiensituation zu tun hat. Doch nicht nur Saki sieht hier keinen Zusammenhang, auch andere Kenner des Falles zweifeln daran. Denn am Tag, bevor sich Wais das Leben nahm, wurde er bei einem Ladendiebstahl erwischt. Er und ein anderer junger Asylwerber machten in einem Spielwarengeschäft wenig wertvolle Beute und wurden kurz darauf ertappt. Als die Polizei bei Wais vor der Tür stand, mussten sie ihn beruhigen, anstatt ihn zu belehren. Denn der Junge sei außer sich gewesen, aufgebracht und nervös, erzählt ein Polizist. Ein anderer vermutet, dass Wais nun davon ausgegangen sei, mit seiner Aktion die Asylchancen seiner Familie zunichte gemacht zu haben. Die Beamten versuchten ihn daraufhin zu beruhigen, man habe ihm versichert, dass die Sache „nicht so schlimm“ sei.

Seine Geschwister zeigen hingegen weniger Verständnis für seine Tat. Sie entscheiden, dass der Bub deshalb nicht mit ihnen in die Moschee mitgehen darf – worauf Wais jedoch immer großen Wert gelegt hatte, erzählt ein Informant, der anonym bleiben will. Während sich die sechs Geschwister des Elfjährigen auf den Weg in die Moschee machen, erhängt sich Wais Khan H. in der Familienunterkunft im Paul-Weiland-Haus

Volksanwaltschaft prüft 

Was ihn wirklich dazu bewogen hat, sein Leben zu beenden, dürfte ungeklärt bleiben. Im Fall der Bezirkshauptmannschaft prüft nun aber die Volksanwaltschaft, ob ein Behördenfehler vorliegt. Drei Wochen hat die BH nun Zeit, alle erforderlichen Unterlagen vorzulegen. „Wir schauen uns die Sache dann an und rechnen Mitte Dezember mit einem Ergebnis“, erklärt der zuständige Volksanwalt Günther Kräuter. Das öffentliche Interesse an der Entscheidung ist groß, auch deutsche Medien haben sich bereits angekündigt.

In Baden kehrt nach dem Tod von Wais langsam wieder so etwas wie Normalität ein. Auch im Supermarkt gegenüber des Weiland-Hauses, wo der Suizid des Buben ein Dauerthema ist. Ein Mann, der seine Einkäufe verstaut, schüttelt den Kopf. „Meine elfjährige Enkeltochter ging mit dem Buben in die Schule – sie versteht die Welt nicht mehr.“