Seit einigen Jahren beschäftigt sich der Westen verstärkt mit islamistischem Terror. Stehen wir am Anfang oder am Höhepunkt dieser Welle, die Europa da erfasst?

Neumann: Meine These ist, dass der Höhepunkt der letzten Welle der 11. September war. Und dass wir als Ergebnis des Arabischen Frühlings und des Syrien-Krieges am Anfang einer neuen Welle stehen. Da sich da eine neue Generation radikalisiert hat, stehen uns noch viele Jahre bevor.

Würde eine Niederlage der Terrormiliz IS etwas ändern?

Neumann: Selbst wenn der Syrien-Krieg endet und der Islamische Staat im Kerngebiet zusammenbricht, ist das nur das Ende der ersten Phase. Wir haben jetzt noch ungefähr 10.000 ausländische Kämpfer in Syrien und im Irak. Einige davon werden sterben, wenn der IS zusammenbricht. Aber viele werden überleben und stellen sich die Frage: Was jetzt? Ich denke, dass wir genauso wie nach dem Ende des Afghanistan-Kriegs in den Achtzigern viele Kämpfer in anderen Konflikten sehen werden. Einige werden genauso wie in den Neunzigern wieder damit anfangen, ein neues Terrornetzwerk aufzubauen. Damals wurde daraus Al-Kaida. Was diesmal aus diesen Kämpfern wird und was sie genau aufbauen werden, kann noch keiner sagen. Aber selbst wenn der IS als Kalifat nicht mehr besteht, existieren zumindest zum Teil die Ideen und die Leute weiterhin.

Halten Sie den IS im Inneren für so stark, dass er selbst bei einem militärischen Sieg in Mossul oder Rakka sein Netzwerk aufrechterhalten kann?

Neumann: Das Netzwerk wird weiter bestehen und das Internet spielt dabei eine große Rolle. Es hat Radikalisierungsverläufe verändert. Es ist nicht vorstellbar, dass eine transnationale Gruppe wie der IS ohne dieses Medium existiert. Aber man darf das nicht überbewerten, wenn man sich anschaut, wie Leute in Europa rekrutiert werden. In Belgien kamen 60 Prozent aller Syrienkämpfer aus nur drei Orten. Diese Häufungen entstehen, weil bei der Rekrutierung Freundschaften eine große Rolle spielen. Die Leute sind in dieselbe Schule gegangen, spielen miteinander Fußball. Das Internet ist wichtig, weil man Kontakt halten kann, aber enge Freundschaftsverhältnisse sind nach wie vor der wichtigste Faktor, wenn es um tatsächliche Rekrutierung geht.

In der Schweiz hat eine islamische Gemeinde ihren Imam entlassen, weil öffentlich wurde, dass er radikal predigt. Sind die Muslime stärker gefordert?

Neumann: Es geht nicht darum, dass muslimische Verbände sagen: Der IS ist schlecht! Das sagen sie ja schon. Die wichtigere Aufgabe wäre es, bessere Angebote für junge Leute zu machen. Noch immer werden in allen europäischen Ländern die Gemeinden von älteren Männern dominiert. Es gibt keinerlei Interesse, sich mit den Problemen junger Muslime in europäischen Gesellschaften auseinanderzusetzen.

Was heißt das konkret?

Neumann: Wenn ich ein 18-jähriger Muslime aus einem Vorort von Paris bin oder aus Berlin-Neukölln und alle möglichen Fragen zu Sexualität, Gewalt, Drogen habe, oder wissen will, was es bedeutet, ein junger Muslim in einer mehrheitlich nichtmuslimischen Gesellschaft zu sein, finde ich in meiner lokalen Moschee keine Antwort. Stattdessen finde ich einen Imam, dessen Sprache ich nicht so gut verstehe. Als Nächstes gehe ich ins Internet, tippe meine Fragen ein, und was kommt raus? Pierre Vogel kommt raus! Er spricht in Deutsch auf eine kumpelhafte Art über all diese Themen. Jeder junge Muslim kennt den radikalen Prediger und er beschäftigt sich tatsächlich mit den Problemen, die mir unter den Nägeln brennen. Das tun die Moscheen nicht.

"Der Terror ist unter uns. Dschihadismus und Radikalisierung in Europa." Ullstein, 304 S., 20,60 Euro
"Der Terror ist unter uns. Dschihadismus und Radikalisierung in Europa." Ullstein, 304 S., 20,60 Euro © Ullstein Verlag

Haben wir im Westen Fehler gemacht, was die Entwicklung in der Region betrifft und bei der Radikalisierung junger Leute aus Europa?

Neumann: Ja, das sind die zwei Wurzeln des Problems. An der Situation im Nahen Osten ist der Westen mit Schuld, wenn auch nicht der einzig Schuldige. Und jetzt kann der Westen das auch nicht so einfach lösen. Im Nahen Osten sehen wir eine historische Transformation, von der Historiker in zwei-, dreihundert Jahren noch als besondere Phase schreiben werden. Ich bin mir ganz sicher, das am Ende dieses Prozesses neue Grenzen und Staaten stehen werden und bis dahin noch sehr viel Blut vergossen werden wird.

Wie ist es mit der Radikalisierung junger Leute aus Europa?

Neumann: Die zweite Wurzel des Problems ist die Tatsache, dass wir es in Westeuropa zugelassen haben, dass im Laufe der Jahrzehnte eine Art muslimische Unterklasse entstanden ist. Daran haben wir wirklich schuld, dass diese Unterklasse in manchen europäischen Staaten wie Frankreich oder Belgien in den Vororten in Ghettos lebt. Diese Menschen sind zwar in Europa geboren und aufgewachsen, haben europäische Pässe, sprechen europäische Sprachen, begreifen sich aber nie wirklich als Teil der europäischen Gesellschaft. Und sie werden auch von dieser Gesellschaft nicht als ein Teil derselben begriffen. Das ist letztlich die strukturelle Spannung, an die der IS mit seiner Ideologie andockt. Es ist der Pool von Leuten, aus dem er seine Anhänger rekrutiert. Wir haben es bis heute nicht geschafft, dass jemand aus der Generation, dessen Großeltern Türken waren oder aus Algerien kamen, tatsächlich glaubt, Teil Europas zu sein und als solcher akzeptiert zu werden. Das ist nicht nur die Schuld einer Seite, da ist viel zusammen gekommen. Aber diese Tatsache ist die Wurzel des Dilemmas.

Sie leben seit 17 Jahren in London. Haben Sie das Gefühl, dass es die Briten besser gemacht haben?

Neumann: Nein, das Problem gibt es letztlich in jeder europäischen Gesellschaft. Allerdings ist es unterschiedlich ausgeprägt. Ich glaube, dass es in Frankreich am extremsten ist. Dort gibt es nicht nur ein Gefühl des Ausgeschlossenseins sondern einen richtigen Hass auf die französische Gesellschaft. In Großbritannien wurden auch Fehler gemacht, aber eher anders herum. In Frankreich gab und gibt es einen starken Assimilierungsdruck, der religiöse Identität total verneint. Dort wird gesagt, ihr dürft kein Kopftuch tragen und im Prinzip keine Muslime mehr sein. Das ruft natürlich eine starke Gegenreaktion hervor. In Großbritannien ist das fast umgekehrt. Hier hat man sich viele Jahrzehnte überhaupt nicht dafür interessiert, was Einwanderergruppen gemacht haben. Und man hat ihnen quasi erlaubt, eine Art Parallelgesellschaft aufzubauen. Erst nach dem 11. September ist man darauf gekommen: Huch, die sind ja schon hier! Erst dann begann man sich zu überlegen, wie wir die in unsere Gesellschaft integrieren? Das Endergebnis ist aber dasselbe. In allen westeuropäischen Gesellschaften gibt es eigentlich keinen Begriff der nationalen Identität, der Platz hätte für diese Leute.

Ein Kernsatz Ihres neuen Buches ist, dass es keine einheitliche Formel gibt, wie Menschen sich radikalisieren. Wonach kann man dann suchen?

Neumann: Zu sagen: „Ich geh jetzt in die Moschee und identifiziere dort aus einer Menge von tausend Leuten nach einer bestimmten Formel zukünftige Terroristen“, das funktioniert so einfach nicht. Auch wenn Polizei und Nachrichtendienste gerne so eine Methodik hätten. Doch die Bausteine sind immer die gleichen. Es geht um Frustration, um persönliche Bedürfnisse, wie die Sehnsucht nach Abenteuer, Struktur, Orientierung, Gemeinschaft, um soziale Umfelder, um charismatische Anführer. Es geht natürlich auch um Ideologien, denn ohne Ideologie wird Frustration nicht zu einem politischen Projekt, und natürlich geht es auch um Gewalterfahrungen. Das sind die fünf Bausteine, die in jedem Radikalisierungsverlauf vorkommen. Wie genau die sich zusammensetzen, kann man aber nicht mit Sicherheit sagen, da gibt es schon Unterschiede.

Also keine einfache Formel?

Neumann: Die einfachste Formel, die man nach den Attentaten im Sommer oft gehört hat: Das sind Geisteskranke oder Verrückte! Deshalb mein Titel: „Der Terror ist unter uns!“ Weil ich davon wegkommen möchte, weil mir das zu einfach ist. Ich vergleiche es ein wenig damit, was Hannah Arendt über Adolf Eichmann geschrieben hat. Das war natürlich ein Monster. Aber wenn man ihn im Gericht beobachtet hat, kam er einem normal vor. Er wurde sechsmal von Psychologen untersucht, die herausgefunden haben, dass das Einzige, was ungewöhnlich ist, war, dass er so außergewöhnlich normal ist. Das war kein Geisteskranker, obwohl er schreckliche Dinge getan hat. Genauso haben wir es bei Terroristen mit relativ normalen Menschen zu tun, die abnormale und schlechte Dinge tun.

Wie kann man Prävention gezielt einsetzen?

Neumann: Bei Prävention geht es darum, Leute anzusprechen, bevor sie überhaupt irgendetwas mit Extremismus zu tun haben und nicht Leute anzusprechen, die sich bereits radikalisieren. In vielen Fällen ist Prävention klassische Jungend- und Sozialarbeit. Es geht darum, Teilhabe-Integration zu fördern. In manchen Vororten von Paris ist der Staat und die Zivilgesellschaft seit Jahrzehnten nicht mehr präsent. Es ist klar, dass da ein Vakuum entsteht. Was die Extremisten da tun, ist ja keine Zauberei. Sie gehen in diese Vororte rein – ich habe das viele Male beobachtet - und machen im Prinzip das, was früher Sozialarbeiter gemacht haben. Sie gehen auf junge Leute zu, setzten sich mit ihren Problemen auseinander. Sie nehmen die jungen Leute ernst, bieten Lösungen an und sind sind großteils charismatische Vaterfiguren. Das können der Staat, die Zivilgesellschaft oder Verbände auch leisten. In Teilen Europas wird das aber nicht mehr geleistet.

Der französische Philosoph Philippe-Joseph Salazar wirft in seinem neuen Buch „Die Sprache des Terrors“ dem Westen vor, dass sich Wissenschaft, Politik und Medien zu wenig mit den Inhalten der Terrororganisation beschäftigen. Sie haben sich ja in Ihrer Forschung viel mit den Videos des IS beschäftigt. Beachten wir Worte und Rhetorik der Islamisten zu wenig?

Neumann: Ich glaube, dass wir uns speziell mit dem IS sehr intensiv beschäftigen. Auch reflektiert das, was der IS sagt, nicht unbedingt das, was seine Kämpfer und die Basis denkt. Zudem kann man beim IS beobachten, dass er eine Organisation ist, die wenig daran interessiert ist, tatsächlich eine theologische Grundlage dafür zu konstruieren, was sie tut. Bei Al-Kaida konnte man noch genau beobachten, wie nach jedem Anschlag ein ganzes Buch herauskam. Man wollte ernst genommen werden und religiös akzeptiert. Dem IS ist das im Prinzip wurscht. Der IS ist auch deshalb so erfolgreich, weil er intellektuell weit weniger anspruchsvoll ist als seine Vorgänger.

Sie beschreiben in Ihrem neuen Buch auch Parallelen zur Gewalt der IRA in Großbritannien und der RAF in Deutschland? Gibt es wirklich Parallelen?

Neumann: Auf jeden Fall! Das sind genau diese fünf Bausteine, die ich beschreibe und die Radikalisierung überall gemeinsam haben. Die Ideologien unterscheiden sich natürlich, aber die Gemeinsamkeiten sind da. Ich beginne das Buch mit einer Geschichte aus Nordirland in den frühen Achtzigerjahren. Die sogenannten „Schlächter von Shankill“ aus dem Osten von Belfast zogen nachts durch die Straßen aus den katholischen Gebieten der Stadt und haben sich irgendwelche Katholiken geschnappt. Die haben sie die ganze Nacht gequält und ihnen dann die Köpfe abgeschlagen. Diese Idee, dass Enthauptung etwas rein und einzigartig islamisches ist und nur mit dem Islamischen Staat angefangen hat, ist also absurd. Junge Männer, die nach Abenteuern suchen, nach Adrenalin, Bedeutung, Sinn, Gemeinschaft und Ruhm, gibt es nicht nur beim Islamischen Staat. Die gibt es in jeder terroristischen Bewegung. Ich schreibe zum Beispiel über Andreas Baader von der „Roten Armee Fraktion“, der im Prinzip nicht besonders intelligent war. Er war eigentlich ein „Loser“ und hat sich mit allen möglichen Jobs herumgeschlagen. Er war aber jemand, der Autos gut fand und sich selbst gerne in Szene setzte und einen Hass auf die Gesellschaft hatte. Der landete dann bei der RAF, weil das eben die Ideologie der Zeit war. Im Prinzip aber hat er sich überhaupt nicht für linke Ideologie oder Theorie interessiert. Baader hat erst im Gefängnis mit dem Lesen angefangen. Man kann sich gut vorstellen, dass der zu einer anderen Zeit bei einer anderen Gruppe gelandet wäre. Ich stelle die provokante These auf, wenn er sich heute radikalisiert hätte, würde er vielleicht mit einem gestohlenen Auto nach Bagdad gefahren und sich einen Bart wachsen lassen. Wer weiß?

Der Titel „Der Terror ist unter uns“ ihres Buche hat eine gewisse Zweideutigkeit. Er könnte auch alarmistisch gelesen werden.

Neumann: Natürlich kann man das etwas reißerisch interpretieren. Aber er ist wirklich anders gemeint gewesen. Wir müssen damit aufhören, zu sagen: Der Terrorismus ist etwas, was von außen kommt. Nach einem Anschlag sind es dann plötzlich Türken oder Algerier und keine Deutschen oder Franzosen mehr. Das ist dann etwas, was in den Bereich der Psychiatrie gehört. Dieser Terrorismus kommt aus unserer Gesellschaft, er entwickelt sich aus Spannungen in unserer Gesellschaft und der Art und Weise wie sich unsere Gesellschaft verhalten hat. Wir müssen akzeptieren, dass das ein Teil von uns ist. Die Lösung besteht nicht darin, dass man Mauern baut und die Leute alle psychiatrisch untersucht. Wir müssen uns mit unseren eigenen Problemen beschäftigen.