In der aufgeheizten Stimmung nach dem Putschversuch in der Türkei fürchten Anhänger der pro-kurdischen HDP nach den Worten des deutsch-türkischen Abgeordneten Ziya Pir um ihr Leben. Auf den Straßen des Landes seien derzeit nur Anhänger der AKP von Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan und der ultrarechten MHP, sagte Pir am Mittwoch der Deutschen Presse-Agentur in Istanbul. "Sie rufen nicht nach Demokratie, sondern nach Erdogan. Deshalb gehen unsere Leute nicht auf die Straße. Sie haben Angst, gelyncht zu werden. Die Stimmung gegen Oppositionelle ist zu aufgeheizt."

Ein Regierungsvertreter, der anonym bleiben wollte, widersprach Pir. "Es gibt keinen einzigen Fall, wo die Opposition beschuldigt oder sogar angegriffen wurde", sagte er. "Menschen mit verschiedenen Hintergründen gehen hinaus, um die Demokratie zu verteidigen. Im Pro-Demokratie-Lager gibt es viel Platz. Der Präsident und der Ministerpräsident haben Anführern aller Oppositionsparteien für ihre starke Haltung gegen den Putsch gedankt."

Pir begrüßte die Niederschlagung des Putsches, "der Gott sei Dank abgewendet wurde. Jetzt erleben wir jedoch leider einen zivilen Gegenputsch. Die Maßnahmen und Säuberungen waren sehr gut vorbereitet". Der Abgeordnete fügte hinzu: "Diese Situation wird jetzt ausgenutzt, um unter dem Deckmantel der Komplizenschaft gegen alle Oppositionellen vorzugehen."

Nach dem gescheiterten Militärputsch hat das türkische Verteidigungsministerium einem Medienbericht zufolge auch 262 Militärrichter und -staatsanwälte suspendiert. Der private Fernsehsender NTV berichtete am Mittwoch, außerdem würden alle übrigen Richter und Staatsanwälte im Militärdienst überprüft.

Nach dem Putschversuch hat Präsident Recep Tayyip Erdogan bereits Zehntausende Lehrer, Polizisten und Soldaten verhaften oder aus dem Amt entfernen lassen. Akademiker dürfen seit Mittwoch nicht mehr ausreisen. Zudem wurde gegen 99 der 360 Armeegeneräle Anklage erhoben. Allein am Regierungssitz Ankara wurden 900 Polizisten vom Dienst suspendiert.

Nach dem Putschversuch hat die US-Ratingagentur Standard and Poor's die Kreditwürdigkeit des Landes herabgestuft. Die Polarisierung der politischen Landschaft nach dem Umsturzversuch habe das System der Gewaltenteilung in der Türkei "weiter ausgehöhlt", erklärte S&P am Mittwoch. Es drohe eine "Phase verstärkter Unberechenbarkeit".Die Bonitätsnote der Türkei wird damit von BB+ auf BB gesenkt. Gleichzeitig stufte die Ratingagentur die weiteren Aussichten als negativ ein. Bereits am Montag hatten die konkurrierenden Ratingagenturen Moody's und Fitch erklärt, sie prüften derzeit die Kreditwürdigkeit der Türkei. Die Türkei liegt bei beiden Ratingagenturen schon jetzt nur noch eine Stufe über Ramschniveau.

Nach dem gescheiterten Militärputsch in der Nacht zum Samstag wurden in der Türkei tausende Menschen festgenommen, denen eine Nähe zu den Putschisten nachgesagt wird. Zudem wurden rund 50.000 Mitarbeiter des öffentlichen Dienstes entlassen oder suspendiert, darunter tausende Richter und Staatsanwälte und mehr als 15.000 Bedienstete des Bildungssektors. Am Mittwoch verbot der türkische Hochschulrat allen Universitätslehrkräften und Wissenschaftern Dienstreisen ins Ausland.

Der deutsche Fußball-Nationalspieler Mario Gomez verlässt nach dem gescheiterten Putschversuch den Spitzenclub Besiktas Istanbul. In einer Erklärung im Internet schrieb Gomez: "Der Grund dafür ist ausschließlich die politische Situation! Weder sportliche noch andere Gründe haben mich dazu bewegt. Einzig und allein die schrecklichen Geschehnisse der letzten Tage."Zum Zeitpunkt des Putschversuchs war Gomez im Urlaub und nicht in Istanbul. Der Stürmer war im vergangenen Sommer auf Leihbasis mit Kaufoption von Fiorentina zum türkischen Meister gekommen. Wohin der 31-Jährige nun wechselt, ist noch offen.

Der von Präsident Recep Tayyip Erdogan als angeblicher Drahtzieher verantwortlich gemachte islamische Prediger Fethullah Gülen bekommt nach dem Putschversuch persönliche Konsequenzen zu spüren: Dem in den USA lebenden Gülen sei seine Rente aberkannt worden, meldete die amtliche Nachrichtenagentur Anadolu am Mittwoch.Laut der Oppositionszeitung "Sozcü" erhielt Gülen bisher die türkische Maximalrente von umgerechnet 380 Euro monatlich. Die letzte Zahlung habe der 75-Jährige am Dienstag erhalten, vier Tage nach dem gescheiterten Putschversuch. Laut Anadolu droht anderen mutmaßlich am Putsch beteiligten "Verantwortlichen" ebenfalls die Aberkennung ihrer Renten. Erdogan hatte Gülen als angeblichen Drahtzieher für den Umsturzversuch verantwortlich gemacht und von den USA die Auslieferung des mit ihm verfeindeten Klerikers verlangt. Gülen war lange Zeit ein Vertrauter des türkischen Präsidenten, bevor sich beide entzweiten und Erdogan den Prediger zu seinem Intimfeind erklärte.