In „Transit“ pflanzen Sie die Geschichte von einer Gruppe Deutschen, die 1941 vor den Nazis nach Amerika fliehen wollen, ins heutige Marseille. Wie sind Sie auf diesen cleveren Kniff bei der Adaption von Anna Seghers’ Roman gekommen?
Christian Petzold: Ich habe davor mit „Barbara“ und „Phoenix“ zwei historische Filme gemacht. Letzterer war ein Studiofilm, da musste ich die Vergangenheit rekonstruieren und kam mir vor wie ein Labormediziner, der alles kontrolliert. Ich hatte keine Lust mehr darauf, weil ich den Kontrollverlust liebe. Da habe ich den ersten Entwurf, den ich mit Harun Farocki schrieb, zur Seite gelegt.


Und wie kam es schließlich zu einem Sinneswandel?
Ein Freund von mir, ein Philosoph, hat einen sehr schönen Satz von Adorno aus den Hegel-Vorlesungen in Frankfurt zitiert: „Auf die unverschämte Frage, was Hegel uns heute bedeutet, kann man nur antworten mit der Gegenfrage: ,Was bedeuten wir vor Hegel?‘“ Irgendetwas, dachte ich, ist an diesem Gedanken richtig. Dann sah ich einen meiner Lieblingsfilme, Altmans „The Long Goodbye“, der die historische Figur des Privatdetektivs Philip Marlowe ins Los Angeles von heute übersetzt hat, und das funktioniert ohne jede Irritation. Es irritiert, dass es nicht irritiert. Plötzlich öffneten sich viele Türen: zwischen Vergangenheit und Gegenwart, zwischen Flüchtlingserfahrung 1941 und Asylgrenzen heute.


Steht Flucht als Generalthema über diesem Film?
Ich bin in einer Gegend in Berlin aufgewachsen mit Straßennamen der verlorenen Ostgebiete wie Danzinger Straße. Dort wohnten auch Flüchtlinge, meine Eltern waren auch welche. In diesen Straßen hörte man die verschiedensten deutschen Dialekte: aus dem Sudetenland, aus Ostpreußen. Der Flüchtling, die Bewegung, das ist das, was die Menschen ausmacht. Gesellen wurden auch in die Welt hinausgeschickt, um diese kennenzulernen. Der Reisende und der Flüchtling sind doch die Figuren, die alle Kunst von der „Odyssee“ bis „Gullivers Reisen“ zusammenhalten.


Mit dem Begriff des Flüchtlings werden – nicht nur in Wahlkampfzeiten – Ängste geschürt.
Ja, von Menschen, die keine Bewegung wollen. Die glauben, Identität kann man nur herstellen, indem man Zäune und Mauern hochzieht und sich dabei jeder Verantwortung entzieht. Interessant an der Figur des Flüchtlings ist, dass er Ballast abwerfen muss, um überhaupt in Bewegung zu kommen. Ein Flüchtling kann nur einen Koffer mitnehmen, er kann also nicht zu viele Erinnerungen einpacken, weil ihn das schwer machen, und auch nicht zu viele Hoffnungen mit sich tragen, weil ihn das traurig machen würde. Der Flüchtling hört eigentlich auf zu existieren. Alle Flüchtlingsgeschichten erzählen von dem verzweifelten Versuch, wieder eine Erzählung zu bekommen, und dann sind wir beim Kino.


Heimatlose, Zurückgelassene, Heimkinder oder Schiffbrüchige – unsichere Identitäten sind die Grundlage Ihres Kinos: Was reizt Sie denn an ihnen?
Es gibt nichts Langweiligeres, als in der ersten Einstellung jemanden zu sehen, der sich seiner so sicher ist und das bis zum Schluss des Filmes bleibt. Alle Heldinnen und Helden der Geschichte sind immer Suchende, Aufbrechende, Geflüchtete, nach Hause Zurückgekehrte. Figuren, die immer in Bewegung sind. Die, die sich scheinbar gefunden haben, vor denen muss man sich in Acht nehmen. In „Transit“ geht es wie in einem Entwicklungsroman um zwei junge Menschen, die noch nicht wissen, wer sie sind. Sie sind zwar schon erwachsen, aber eigentlich noch Kinder.

Stete Durchgangszimmersituation:Franz Rogowski
Stete Durchgangszimmersituation:Franz Rogowski © Stadtkino


Franz Rogowski ist eines der spannendsten Gesichter des zeitgenössischen deutschen Kinos. Hatten Sie ihn von Anfang an für die Rolle vorgesehen?
Nein. Bei „Transit“ wusste ich überhaupt nicht, wer das spielen kann. Ich habe mir eine kleine Postkarte von Jean-Paul Belmondo an den Computer gehängt. Er war mein Vorbild. Ich brauchte jemanden, der durch die Verhältnisse tanzt, der körperlich ist, in Bewegung. Meine Editorin hat mich auf „Love Steaks“ gebracht, ich habe ihn angeschaut. Dann habe ich Franz getroffen: Und der ist nicht nur sehr nett, sondern auch unglaublich intelligent. Nach vier Zigaretten haben wir den Vertrag unterschrieben. Ohne Proben. Ich wusste sofort, dass er der Richtige ist.


Sehen Sie „Transit“ als dritten Teil einer Trilogie mit „Barbara“ und „Phoenix“ und als Abschluss eines historischen Projekts?
Ja, Harun und ich, wir haben immer in Trilogien gedacht. Diese haben wir „Liebe in Unterdrückungssystemen“ genannt. Während des Drehs zu „Transit habe ich gedacht: Das ist nun eine Tür, die sich neu öffnet. Das ist kein Studiofilm, der ist nicht unter Laborbedingungen entstanden, sondern ganz frei, mit Improvisationen. Wir haben auf der Straße gedreht – ohne Absperrungen. Der Film ist für mich ganz leicht und tänzerisch geworden. Da habe ich sofort eine Idee für drei weitere Filme, eine neue Trilogie, bekommen, von der der erste nächstes Jahr gedreht wird. Es ist eine Liebesgeschichte, wieder mit den Schauspielern Franz Rogowski und Paula Beer, die in Berlin stattfinden wird. Um Liebe geht’s ja bei mir immer. Um Liebe und Verbrechen. Ich komme da einfach nicht raus.