Man braucht eine längere Vorgeschichte, um das ganze Versagen der österreichischen Gesundheitspolitik nachvollziehen zu können.

Die sogenannten Primary-Health-Care-(PHC-)Zentren sind ein exemplarisches Beispiel dafür, wie sich leere Versprechungen und unklare Kompetenzen zu einem Organversagen der zuständigen Stellen entwickeln. Denn noch 2014 wurden diese PHC-Zentren, in denen verschiedene Ärzte und unterschiedliche Gesundheitsberufe die Primärversorgung besser abdecken sollten, präsentiert und gefeiert. Heute, über ein Jahr später, gibt es lediglich Modellversuche. Der nächste Flop, mit Anlauf.

2014 hörte sich das freilich noch ganz anders an. In einer zweiseitigen Presseaussendung des Gesundheitsministeriums konnte man 2014 vom Ex-Gesundheitsminister Alois Stöger (SP) lesen: „. . . ein Brückenschlag in die Zukunft.“ Oberösterreichs Landeshauptmann Josef Pühringer (VP) ließ wissen, dass die Primärversorgung eine „Win-win-Situation für alle“ ist, und Hans Jörg Schelling (VP), damals Vorsitzender des Hauptverbands der österreichischen Sozialversicherungsträger und heutiger Finanzminister, sagte: „Das Modell der Zukunft ist eine umfassendere Primärversorgung.“

Neue Zweiklassenmedizin


Aber bis heute ist PHC ein Phantom. Der bekannte österreichische Gesundheitsökonom Ernest Pichlbauer analysiert: „Es gibt für die PHC keine rechtliche Grundlage etwa zur Finanzierung. Sozialversicherungsanstalten, Ärztekammer etc. streiten darüber, weil nie fixiert wurde, wer was wo und wie macht. Und weil Bund, Länder, Kassen, Kammer und Interessenvertreter nicht wissen, was sie tun, reden sie halt jetzt wieder über Strukturen.“

Und: „In Wien haben wir zwei Jahre gebraucht, um ein PHC-Modell zu errichten. Dort arbeiten drei Ärzte, die 5000 Einwohner betreuen. Wenn wir wieder so lange brauchen, bis wir das nächste PHC-Zentrum installieren, dann benötigen wir für die 1,8 Millionen Einwohner in Wien Hunderte Jahre, bis alle Wiener versorgt sind. So viel zur Reformgeschwindigkeit.“

Der Gesundheitsexperte Stefan Korsatko macht eine weitere Problemzone aus: „Das, was hier mit den PHC-Zentren entsteht, ist nichts anderes als eine Gruppenpraxis, die aber nicht auf die unterschiedlichen sozialen und gesundheitlichen Unterschiede regionaler Gegebenheiten eingeht. Von Bezirk zu Bezirk ist die Gesundheit der Bevölkerung unterschiedlich, sogar innerhalb einer größeren Stadt. Da kann man nicht einfach ein PHC-Modell drüberstülpen. So wird sich die Zweiklassenmedizin verschärfen.“

Scheingefechte und Patt


Die Politik liefert sich derweil Scheingefechte. Wenn sich VP-Gesundheitssprecher Rasinger plötzlich über die PHC-Schiene aufregt, hinterfragt leider niemand, warum er schwieg, als diese Versorgungsform 2014 auch von seinen Parteikollegen stolz präsentiert wurde. Man kann viele weitere Symptome ausmachen, warum die vom Bund groß angekündigte Gesundheitsreform nie in die Gänge kam. Etwa, weil es keine Konsequenzen gibt, wenn Vorhaben im Gesundheitssystem nicht so umgesetzt werden, wie es vorgesehen war. Wenn zum Beispiel Spitäler an den Bundesländergrenzen nicht kooperieren und ihr Angebot nicht gemeinsam abstimmen: Das bleibt ohne Konsequenzen!

Fragt man im Gesundheitsministerium nach, heißt es, man habe dafür aber einen Eskalationsmechanismus vorgesehen. Wenn man weiter nachsetzt, warum dieser Eskalationsmechanismus – trotz der offensichtlichen Abstimmungsprobleme – nicht greift, heißt es lapidar, der Bund könne den Ländern ja „überhaupt nichts vorschreiben“. Das Patt zwischen Bund und Land scheint unüberwindbar.

Hunderte Millionen mehr


Dabei spüren die Patienten längst die neue Realität in der Versorgung. Durch das neue Ärztearbeitszeitgesetz sind Wartezeiten gestiegen, Spitäler schließen Spezialambulanzen, es fehlen Ärzte, weil viele sich den Spitalsbetrieb nicht antun wollen.

Zwar ist vorgesehen, dass mehr Behandlungen von niedergelassenen Ärzten durchgeführt werden sollen. Aber dort gibt es – vor allem in ländlichen Gebieten – keine Versorgungsstruktur, die alle Patienten auffangen könnte.

Denn für die Kassen, die die niedergelassenen Ärzte zahlen, ist es günstiger, wenn die Patienten in die Spitalsambulanzen gehen, weil dort die Leistungen gedeckelt sind. Natürlich sagen die Kassen, dass sie Hunderte Millionen an die Spitäler zahlen. Aber sie wissen auch: Wenn nicht jede Hautabschürfung in der Spitalsambulanz, sondern von niedergelassenen Ärzten behandelt wird, kostet es die Kassen Hunderte Millionen mehr.

Aus den Fugen geraten


Das Gesundheitssystem ist aus den Fugen geraten. 30.000 Ambulanzpatienten mehr als 2013 hatten steirische Landeskrankenhäuser 2014 zu verzeichnen. Im niedergelassenen Bereich kamen 40.000 Patienten weniger. Das steht diametral zu dem, was in der Gesundheitsreform vorgesehen war (Zahlen laut Ärztekammer).

Klar ist im Kompetenzdschungel nur: Bund und Länder stehen sich im Weg, die Kassen spielen ihr Spiel, die Ärztekammer kämpft für ihre Klientel. Aber keiner hat die Macht, etwas zu ändern. Pichlbauer: „Es ist kafkaesk. Im System wollen alle keine Änderung, aber gleichzeitig versuchen sie, Aktivität zu simulieren.“ Der Mediziner Gerhard Stark fordert: „Mehr Kompetenzen für die Länder. Sonst kann man die Versorgung nicht reformieren.“

Besorgniserregend


Für den steirischen Ärztekammerpräsidenten Herwig Lindner ist es „eine besorgniserregende Entwicklung, die den Ankündigungen einer Stärkung des niedergelassenen Bereichs und der Entlastung der Ambulanzen Hohn spricht“. Dabei kennt man Beispiele, wie es funktionieren könnte – aber Kassen und Kammer finden keinen finanziellen Kompromiss. Und PHC wird, so wie es geplant ist, nicht die Lösung darstellen.

In Kärnten gehört der Mediziner Rudolf Likar zu den kritischen Köpfen: „Auf alle, auch auf die Patienten, kommen Änderungen zu. Ein Beispiel: Als es Ikea nur in Graz gegeben hat, ist man auch von Kärnten in die Steiermark gefahren. Aber im Gesundheitssystem will man keinem zumuten, dass er nur über die Bezirksgrenze fährt. Das wird so nicht mehr funktionieren, weil wir die Ressourcen nicht haben.“ Aber auch bei der Medizin sieht er Änderungsbedarf: „Wir haben eine Überdiagnostizierung. Du bist heute nur gesund, wenn du bei keiner Untersuchung warst. Man wird nicht alles wie bisher behandeln können, weil es die Ärzte nicht mehr geben wird.“

DIDI HUBMANN