Herr Brandstetter, Sie haben das Jahr 2020 bei der Uniqa mit einem Paukenschlag beendet. Wäre der Personalabbau auch ohne die Pandemie so gekommen? In einer Krise ist ja möglicherweise das Verständnis für tiefe Schnitte größer.   

Andreas Brandstetter: Eins zu Eins genauso. Wir hätten die 600 Stellen auch ohne Corona abgebaut. Wir bereiten uns seit zwei Jahren auf das neue Strategieprogramm vor. Es gibt in unserer Branche Faktoren, die im Laufe der nächsten zehn Jahre mehr Veränderungen bringen, als wir sie in den vergangenen hundert Jahren erlebt haben.

Welche Faktoren?

Massive demografische und soziale Veränderungen, eine verstärkte Urbanisierung, technologische Innovation und ein anderes Kundenverhalten. Für meine private Krankenabrechnung mache ich heute ein Foto mit dem Handy, zack weg, und das Geld ist am Konto. Das machen jetzt schon fast 50 Prozent unserer österreichischen Kunden so. Die Erwartungen der Kunden steigen ganz massiv.

Was bedeutet das mittelfristig?

Wir müssen neben den physischen auch bessere digitale Kontaktpunkte zu unseren Kunden haben. Wenn das nicht super funktioniert, sind Menschen heute schnell enttäuscht und wechseln zur Konkurrenz. Für die Mitarbeiter ist das nur eine bedingt gute Nachricht. Jetzt ist auf einmal eine Vision im Raum, wenn sich die technologische Entwicklung, der Einsatz künstlicher Intelligenz so rasant fortsetzt, werden wir für den Backoffice-Bereich viel weniger Menschen brauchen.

Unser Gefühl ist, wir müssen die neuen Services rascher anbieten, viel investieren und im Kerngeschäft schlanker und effizienter werden, Kosten sparen. Wir können Investitionen nicht umwälzen. Keiner unserer 3,6 Millionen Kunden in Österreich will 20 Euro mehr Prämie im Jahr zahlen, weil uns neue Bilanzierungsregeln ab 2023 etwa 60 Millionen Euro kosten.

Kommt es noch zu weiteren Sparprogrammen?

Wir werden in Osteuropa im Jahr 2021, vielleicht auch noch 2022, ähnliche Schritte setzen.

Kurz bevor Sie den Markt aufgeschreckt haben, hatte die Allianz in Deutschland erklärt, bei Lebensversicherungen nicht mehr für eingezahltes Kapital garantieren zu können. Ein Tabubruch?

Wir erleben eine Zeitenwende, absolut. In Zeiten von Nullzinsen ist das die Konsequenz. Wir sehen, dass sehr namhafte Versicherungen außerhalb Öterreichs ihren ganzen Lebensversicherungsbestand verkaufen. Wenn man so wie wir an die Lebensversicherung glaubt, dann muss man attraktive Produkte anbieten. Bei der fondsgebundenen Variante haben wir gerade Zuwachsraten von 30 Prozent.

Werden Sie dem Beispiel Allianz folgen, oder nicht?

Das will ich nicht sagen, weil wir nicht genau wissen, wie sich die Zinsen wirklich entwickeln. Wir nehmen zwar an, dass die Zinsen mittelfristig so tief bleiben werden. Wie unsere Produkte in ein paar Jahren aussehen, das jetzt zu sagen, wäre unseriös. Was wir aus eigener Kraft leisten können, ist, die Kosten zu senken. 

Sie haben kürzlich gesagt, in Zeiten wie heute sei es unmöglich eine Strategie für zehn Jahre zu machen. Aber welche Vision haben Sie für die Uniqa für die nächsten zehn Jahre?

Wir haben sehr klare Vorstellungen. Annehmlichkeit, Geschwindigkeit, gute Qualität wird ein Muss sein. Aber die Kunden werden auch künftig immer entscheiden wollen, ob sie eine Serviceleistung physisch in einem persönlichen Gespräch oder digital in Anspruch nehmen wollen. Eine einfache Reiseversicherung wollen Kunden vielleicht digital kaufen, aber bei den komplexeren Produkten vielleicht jemandem in die Augen schauen, Vertrauen haben.

Wie viel wird heute schon online abgeschlossen?

Wollen Sie raten? Ein Prozent der Prämien wird online abgeschlossen. Das überrascht uns manchmal selbst noch. Was wir aber tagtäglich erleben, ist, dass sich Menschen digital bis ins Detail informieren, vergleichen. Und dann konfrontieren sie den Berater damit und fordern ein. Ich glaube nicht, dass wir in fünf Jahren immer noch bei nur einem Prozent Online-Anteil des Gesamtumsatzes sein werden, aber ich glaube auch nicht, dass es 50 Prozent sein werden. Und ich sage auch, First Class Servicierung wird nicht genügen. Wir wollen uns als Uniqa weiter vom Markt differenzieren und das Ökosystem Gesundheit besetzen.

Im Gesundheitsbereich werden gerade Angebote entwickelt, die auch Nicht-Kunden nutzen können. Was ist da zu erwarten?

Wir wollen jetzt in drei Bereiche investieren, wo wir glauben, dass in Österreich, aber auch in ganz Europa ein großer Bedarf besteht. Das ist erstens die mentale Gesundheit, die liegt uns sehr am Herzen und zwar schon vor Covid-19. Ein zweiter Punkt ist: Für eine Reihe von Industrie- und Großkunden, die wir bei der Expansion nach Osteuropa begleitet haben, wollen wir Lösungen anbieten, die weit über die Arbeitsmedizin hinausgehen. Der dritte und brennendste Bereich überhaupt ist, „elderly care“, also Altenpflege. Da spielt auch das Thema Altersarmut und Pensionsvorsorge eine Rolle. Wir wollen alles tun, damit Menschen verstehen, dass eine private Pensionsvorsorge, so klein sie auch immer ist, ein Thema der persönlichen Verantwortung ist und nicht nur ein Produkt für die Reichen. 

Kann das auch psychologische Hilfe für jeden sein?

Ja. Es gibt sehr viele Menschen, die speziell derzeit mental und psychisch ein großes Problem haben, die nicht wissen, wie sie neben zwei Kindern, einem Mann, der auch zu Hause arbeitet, auf 60 Quadratmetern arbeiten sollen. Oft kommen noch ganz andere Belastungen hinzu, vielleicht Probleme mit den Kindern. Das ist kein österreichisches Phänomen, wir bekommen das auch stark aus Osteuropa mit, dass das Thema psychische Beanspruchung ein Riesiges ist. Ich kann jetzt dazu nicht mehr sagen, weil es Geheimhaltungserklärungen gibt, aber wir wollen in diesen Bereich einsteigen und neue Dienstleistungen anbieten. Das geht in Richtung Prävention, gesunder Lebensstil, Vermeidung von Krankheiten, Umgang mit Stress.

Jetzt sprechen wir von den Großkunden?

Ja, diese Unternehmen wollen und müssen sich als kompetitiver und fürsorglicher Arbeitgeber positionieren im Kampf um Talente und tolle Leute, gerade im Bereich von IT und Data-Management.

Im Hinblick auf die Pensionsvorsorge wollen sie aber nicht nur mehr Verträge abschließen?

Ob das Thema für uns zum Beispiel auch den Erwerb von Altersheimen bedeutet, ist noch völlig offen. Sicher ist, wir wollen Menschen im letzten Lebensabschnitt sehr aktiv unterstützen und begleiten. Wir haben für die drei Bereiche die Firma SanusX gegründet. Wir haben dort 25 Leute, die Experten im Bereich der Gesundheitsökonomie sind, aus aller Herren Länder kommen und sich mit Dienstleistungen auskennen. Die sollen keine Versicherungsprodukte bauen.

Mein erster "Ansprechpartner" wäre ein digitaler Assistent?

Es wird Vieles geben. Es gibt schon Angebote, da registriert man sich anonym. Man schildert sein Problem und bespricht sich per Video mit ähnlich Betroffenen. Die Pandemie zeigt uns, dass wir sind auf dem richtigen Pfad sind.

Was sind in der Uniqa die Lerneffekte aus der Corona-Krise?

Es gibt zwei ganz Große: ungebrochene Nachfrage hatten wir nur im  Gesundheitsbereich. Und auch unser zweiter Ansatz vor einigen Jahren, in der Gruppe ab 2016 rund 500 Millionen Euro in IT und Big Data zu investieren, hat sich als ganz richtig erwiesen. Wir sind inzwischen in 26 Startups engagiert, die inzwischen über 40 Millionen Euro wert sind. Die werden eine digitale Dividende liefern.

Hat Covid-19 Lücken im Gesundheitswesen bloß gelegt?

Ich habe großen Respekt vor der Politik. Und man wird es niemals allen Recht machen können. Ich habe mich jedenfalls bei den Massentests testen lassen, weil ich das Angebot toll fand. Jetzt, da die öffentlichen Spiäler mit Corona-Patienten voll sind, unterstützen einige unserer Kliniken durch die Übernahme von medizinisch notwendigen Operationen die öffentlichen Spitäler. Dies ist jetzt nicht die Zeit für politisches Kleingeld.

Was kann eine Versicherung für den Klimaschutz tun?

Ich halte es für ein ganz großes Drama, dass durch Corona das Thema Klima massiv in den Hintergrund getreten ist. Das ist eine tickende Zeitbombe, bei der es nicht fünf, sondern eine Minute vor Zwölf ist. Es ist doch meine Pflicht als verantwortungsvoller Mensch und Familienvater, auch im beruflichen Umfeld etwas für den Umweltschutz zu tun. Was können wir tun: Mehr E-Autos fahren, in der Kantine viel mehr regionale Produkte verarbeiten oder keine Plastikbecher mehr für den Kaffee verwenden.  Im noch wichtigeren, größeren Rahmen arbeiten wir seit einigen Jahren mit Greenpeace zusammen. Wir richten unser Anlagevolumen von rund 20 Milliarden Euro nach neuen Grundsätzen aus.

Sie sind auch Präsident der europäischen Versicherungswirtschaft.

Die Branche hat Assets von zehn Billionen Euro under Management (verwaltete Vermögen, Anmerkung). Wir sind der größte institutionelle Investor in Europa. Was wir gerade mit Brüssel verhandeln: wenn Ursula von der Leyen will, dass es diesen Green Deal gibt, dann ist es zentral, wohin eine Versicherung ihre Finanzen lenkt. Was dazu fehlt: Es gibt  zu viel Green washing, wo nur die Fassade grün gefärbt ist. Es fehlt uns noch ein klares Regelwerk, was gilt europaweit als nachhaltig, wir brauchen eine Art TÜV. Da hätten wir gern Erleichterungen. 

Wann könnten die kommen?

Hoffentlich Ende 2021.

Die Uniqa Versicherung expandiert wieder nach Deutschland. Mit was wollen Sie in dem harten Markt Geschäft machen?

Die ungarische Tochter Cherrisk macht das. Das ist ein komplett digitaler Low cost-Carrier. Ein Kunde kann bei Cherrisk "Kirschen" wie eine virtuelle Währung sammeln, wenn er risikobewusst ist und Schäden vermeidet. So gespartes Geldes kann an eine soziale Initiative oder einen Sportverein gespendet werden. Das entscheidet der Kunde. Das erfreut sich so großer Nachfrage, dass wir testen wollen, ob es auch auf dem wirklich heißen deutschen Markt Chancen hat.

Das Konzept wird eins zu eins übernommen?

Ja. Das ist nach unserem Ausstieg 2012 in Deutschland der Wiedereintritt aber mit einem rein digitalen Modell.

Was ist der Plan, wenn das funktioniert?

Dann gehen wir auch in andere westeuropäische Länder.