Arbeiten wir zu viel Teilzeit und zu wenig Vollzeit?
BARBARA PRAINSACK: Umgangssprachlich sagt man Arbeit – und meint Erwerbsarbeit. Wir müssen unterschiedliche Formen der Arbeit würdigen: Die Sorgearbeit wird zum größten Teil unbezahlt gemacht, sie stützt aber die Wirtschaft. Teilzeitarbeitende arbeiten ja daher oft nicht weniger – wir müssen von dieser falschen Gleichsetzung von Arbeit und Erwerbsarbeit weg.

Sie kritisieren, dass Arbeit nicht fair bewertet werde. Was müsste sich ändern?
Bewertung drückt sich in der Entlohnung aus, aber nicht nur dort. Ich sage auch nicht, dass jede Art der Sorgearbeit bezahlt werden muss. Und es ist okay, dass manche Arbeit höher entlohnt wird als andere. Aber: Alle, die arbeiten, müssen genug zum Leben haben. Und: Die wachsende Einkommensschere lässt sich mit mehr Verantwortung, Ausbildung und Erfahrung nicht mehr erklären. 

Die Einkommensschere klafft weiter auseinander?
In den 1960er-Jahren betrug das Einkommensverhältnis zwischen einem CEO und einem durchschnittlichen Arbeitnehmer 1:20, heute sind es bis zu 1:300. Dass sich der Lohn nach der Produktivität richtet, was manche Wirtschaftslobbyisten behaupten, ist eine grobe Verkürzung: Die Produktivitätsgewinne haben sich in den letzten Jahrzehnten nicht ausreichend in Löhnen niedergeschlagen.

Wie ist das zu rechtfertigen?
1:270, das ist die Zahl für die USA, kann man nicht rechtfertigen. Solche Unterschiede schaden der ganzen Gesellschaft. Spitzengehälter wachsen um ein Vielfaches schneller als die normal Erwerbstätiger. In den letzten 30, 40 Jahren sind – auch mit dem Argument der Standortpolitik – die meisten Löhne nicht ausreichend mitgewachsen – mit der Konsequenz, dass heute manche trotz Vollerwerbsarbeit ihre Rechnungen nicht mehr zahlen können.

Haben die Gewerkschaften nicht gut genug verhandelt?
Manche tun sich schwerer, ihre Interessen durchzusetzen. Wenn es immer wieder unwidersprochen heißt, die Löhne der Menschen richten sich nach der Produktivität, setzt sich in den Köpfen fest. Leistung lohnt sich für manche, vor allem für privilegierte Gruppen – und für andere nicht.

Sie meinen, Arbeitszeitverkürzung bei gleichbleibendem Lohn würde den schleichenden Lohnverfall zumindest ein wenig ausgleichen – ein Plädoyer für die 4-Tage-Woche?
Ich sage nicht, dass man diese überall einführen muss. Aber dort, wo man es einführen kann und das ohne große Produktivitätsverluste möglich ist, soll man die 4-Tage-Woche überlegen. In manchen Branchen geht es allerdings nicht – wenn Busfahrer 32 statt 38 Stunden fahren, muss man welche zusätzlich einstellen.

Und diese Mitarbeiter gibt es nicht.
Bei den Busfahrern stimmt das. Aber man kann in vielen Branchen kürzere Arbeitszeit nicht automatisch mit weniger Produktivität gleichsetzen. Im Gegenteil: Jetzt gehen viele Leute aus ihren Jobs raus oder in die Teilzeit, weil die Belastungen zu groß sind. Nicht weil sie faul sind und eine bessere Work-Life-Balance haben wollen, sondern weil die Anforderungen für einen Vollzeitjob in den letzten Jahren so stark gestiegen sind, dass sie es nicht mehr schaffen.

Können wir uns es als Wirtschaft leisten, mehr Leute für gleich viel Arbeit zu bezahlen?
In jenen Branchen, die das einführen sollten, wäre ja die Produktivität nicht geringer. Würde ich vier Stunden pro Woche weniger arbeiten, kann ich die Zeit besser nutzen. Das steigert nicht die Kosten. Manche Betriebe werden die 4-Tage-Woche einführen müssen, weil sie keine Arbeitnehmer mehr finden. Manche müssen bei der 4-Tage-Woche keine zusätzlichen Leute einstellen, weil die Produktivität nicht sinkt – dann steigen auch die Kosten nicht. Und die Kündigungen und Krankenstände sinken.

Sie sagen, soziale Sicherungssysteme müssen sich ändern, indem man die Beziehung zwischen Arbeit und Einkommen neu denkt – was meinen Sie damit?
Unsere Sicherungssysteme sind nicht treffsicher. Es darf nicht alles von der Erwerbsarbeit abhängen. Man könnte zum Beispiel eine bedingungslose Grundabsicherung für alles, was man unbedingt zum Leben braucht, geben. Dass man darüber hinaus natürlich erwerbsarbeitet, ist doch selbstverständlich. Dass dann alle auf der Couch liegen würden, ist ja Unsinn – das ist eine verschwindend geringe Zahl.

Das neue Buch von Barbara Prainsack: "Wofür wir arbeiten", erschienen im Brandstätter Verlag
Das neue Buch von Barbara Prainsack: "Wofür wir arbeiten", erschienen im Brandstätter Verlag © KK

Ist es noch so, dass viele harte Arbeit als Voraussetzung für ein gutes Leben sehen?
Ja, die älteren Generationen. Die Jungen wollen zum Teil nicht mehr Vollzeit arbeiten, weil sie sich trotzdem keine Mietwohnung leisten können. Sie können sich niemals mehr erarbeiten, was ihre Eltern oder Großeltern geschafft haben. Warum sollen sie dann Vollzeit arbeiten, denken sie sich – dann bleiben sie gleich in der Teilzeit und im "Hotel Mama". Viele Ältere sind dann verärgert und sehen die Jungen als faul an.

In dieser wichtigen Frage driften die Generationen auseinander?
Die Boomergeneration definiert sich ganz stark über ihre Erwerbsarbeit und hat auch eine andere Einstellung zur Arbeit. Auch, weil einige dadurch den sozialen Aufstieg geschafft haben und sich ein kleines oder größeres Vermögen verdient haben.  

Sie schreiben, manche hätten daher in ihren Köpfen das Mittelalter nicht überwunden – da kommt etwas in Bewegung?
Die Vorstellungen, was eine "normale Arbeitszeit" ist, verändert sich ja. Es waren ja einmal 60 Wochenstunden und sogar mehr, dann 48, dann 40, jetzt sind 38,5.

Wann wird sich die 4-Tage-Woche flächendeckend durchgesetzt haben?
Bei Prognosen bin ich ganz vorsichtig. Ich glaube, dass es in diese Richtung geht, ob es 5 oder 15 Jahre dauert, weiß ich nicht.

Wie lange arbeiten Sie?
Es ist viel, aber es ist selbstbestimmt. Wie jeder, der sehr viel arbeitet, aber vieles, was er tut, als sinnvoll erlebt. Burnout heißt ja nicht nur zu viel zu arbeiten, sondern nicht selbstbestimmt zu arbeiten und keine Freiheiten zu empfinden.