Die Inflation in Deutschland ist auf den höchsten Stand seit fast 28 Jahren geklettert. Waren und Dienstleistungen waren im August durchschnittlich 3,9 Prozent teurer als im Vorjahresmonat, wie das Statistische Bundesamt am Montag mitteilte. Einen stärkeren Preisauftrieb gab es zuletzt in der Zeit nach der deutschen Wiedervereinigung - im Dezember 1993 mit damals 4,3 Prozent. Ökonomen hatten mit 3,9 Prozent gerechnet, nach einer Inflationsrate von 3,8 Prozent im Juli.

"Damit dürfte der Inflationsgipfel aber noch nicht erreicht sein", sagte Chefvolkswirt Michael Holstein von der DZ Bank. "Wir bleiben auf dem Weg zu fünf Prozent Teuerung am Jahresende", sagte Chefökonom Michael Heise von HQ Trust.

Experten erwarten, dass etwa wegen anhaltender Materialengpässe bei einigen Waren die Inflation in den nächsten Monaten weiter anziehen könnte. Steigende Kosten, hohe Warennachfrage und ein deutlich zunehmender Konsum an Dienstleistungen sorgten für Preisdruck, betonte Heise. Friedrich Heinemann vom Mannheimer ZEW-Institut rechnet damit, dass sich die Lage erst ab Anfang 2022 wieder beruhigen dürfte. "Aber auch danach ist eine Rückkehr zu moderaten Inflationsraten unter zwei Prozent keineswegs sicher."

Kaufkraftverlust für viele Beschäftigte

Ein Grund für die Entwicklung ist ein sogenannter Basiseffekt in der Statistik, der auf die coronabedingte Senkung der Mehrwertsteuersätze im Juli 2020 zurückzuführen ist. Die deutsche Regierung hatte die Mehrwertsteuer in der zweiten Jahreshälfte 2020 im Kampf gegen die wirtschaftlichen Folgen der Pandemie von 19 auf 16 Prozent gesenkt, um Konsum und Konjunktur anzukurbeln. Dies machte viele Dienstleistungen und Waren günstiger - und nun kehrt sich dieser Effekt um.

Damit zeichnet sich für viele Beschäftigte ein Kaufkraftverlust in diesem Jahr ab, der sich auf die laufenden Tarifgespräche auswirken dürfte. "Absehbar ist, dass die Verteuerung der Lebenshaltung, die vor allem untere und mittlere Einkommensgruppen betrifft, zu Ausgleichsforderungen bei den Lohnverhandlungen führen wird", sagte Fachmann Heise.

Dem gewerkschaftsnahen Institut für Makroökonomie und Konjunkturforschung (IMK) zufolge dürfte die Teuerungsrate im Gesamtjahr 2021 bei durchschnittlich 2,5 bis 3,0 Prozent liegen, während die Tariflöhne wohl nur um rund zwei Prozent zulegen sollten. "Daran werden auch die jetzt noch anstehenden Tarifverhandlungen nicht viel ändern, weil die sich daraus ergebenen Lohnsteigerungen nur einen begrenzten Teil der Beschäftigten betreffen und außerdem vor allem im kommenden Jahr wirksam werden dürften", sagte IMK-Direktor Sebastian Dullien zu Reuters. Für sich genommen bedeute ein Rückgang der kaufkraftbereinigten Löhne einen Dämpfer für die private Konsumnachfrage. Dies werde allerdings kurzfristig durch den sich abzeichnenden Beschäftigungszuwachs und den Rückgang der Kurzarbeit kompensiert. "Mittelfristig wäre es aber für die Konsumnachfrage gut, wenn die Löhne wieder etwas stärker steigen würden", sagte der Ökonom.

"Auf die EZB kommen jetzt schwere Monate zu"

Energie kostete im August um 12,6 Prozent mehr als vor Jahresfrist, Nahrungsmittel um 4,6 Prozent mehr. Dienstleistungen verteuerten sich mit 2,5 Prozent unterdurchschnittlich, ebenso wie Wohnungsmieten mit 1,3 Prozent.

Die Europäische Zentralbank (EZB), die mittelfristig eine Inflation von rund zwei Prozent als ideal für die Konjunktur sieht, dürfte ihre Inflationsschätzungen für 2021 und für 2022 aufgrund des Preisanstiegs in Deutschland und anderen Euro-Ländern wohl deutlich anheben, erklärte Heise. "Auf die EZB kommen jetzt schwere Monate zu", sagte ZEW-Experte Heinemann. Ein einfaches "Weiter so" mit extrem expansiver Geldpolitik dürfe nicht länger die Kernbotschaft der Währungshüter sein.