Die deutschen Verbraucherpreise sind im Juli so stark gestiegen wie seit 1993 nicht mehr. Die Lebenshaltungskosten legten um 3,8 Prozent zum Vorjahresmonat zu, wie das Statistische Bundesamt am Donnerstag zu seiner ersten Schätzung mitteilte. Ökonomen hatten lediglich 3,3 Prozent erwartet, nachdem die Inflationsrate im Juni noch bei 2,3 Prozent gelegen war.

"Verantwortlich für den weiteren Anstieg der Inflationsrate im Juli 2021 ist insbesondere ein Basiseffekt, der auf die coronabedingte Senkung der Mehrwertsteuersätze im Juli 2020 zurückzuführen ist", erklärten die Statistiker. Die deutsche Regierung hatte die Mehrwertsteuer in der zweiten Jahreshälfte 2020 im Kampf gegen die wirtschaftlichen Folgen der Pandemie gesenkt, was viele Waren und Dienstleistungen günstiger machte. Jetzt kehrt sich dieser Effekt um.

Experten rechnen mit 5 Prozent Inflation

Ökonomen zufolge dürfte sich der Preisauftrieb in den kommenden Monaten weiter beschleunigen. "Es sollte niemanden überraschen, wenn die Verbraucherpreise am Jahresende in Deutschland nahe bei fünf Prozent liegen", sagte der Chefvolkswirt des Vermögensverwalters HQ Trust, Michael Heise. Auch Bundesbank-Präsident Jens Weidmann rechnet damit, dass sich die Inflationsrate in diese Richtung bewegen könnte. Entspannung ist wohl erst im nächsten Jahr in Sicht, wenn der Mehrwertsteuereffekt wieder verschwindet. "Für eine auch längerfristig spürbar über zwei Prozent liegende Inflationsrate müssten allerdings auch die Löhne anziehen, wofür es bisher noch keine Anzeichen gibt", sagte Commerzbank-Ökonom Ralph Solveen.

"Hinter dem aktuellen Preisauftrieb stehen starke Verteuerungen verschiedenster Rohstoffe sowie Lieferengpässe bei wichtigen Vorleistungen, die zu langen Lieferzeiten und geringen Lagerbeständen geführt haben", sagte Heise. So verteuerte sich Energie im zu Ende gehenden Monat um 11,6 Prozent zum Vorjahreszeitraum. Nahrungsmittel kosteten um 4,3 Prozent mehr. "Außerdem haben einige Dienstleister erwartungsgemäß das Wiederöffnen genutzt, um bei hoher Nachfrage auch ihre Preise anzuheben", sagte der Chefvolkswirt der Berenberg Bank, Holger Schmieding. "Die Bürger wollen ja wieder in die Gaststätten und Kneipen."

Löhne steigen langsamer als Preise

Die Europäische Zentralbank (EZB) strebt in der Währungsunionmittelfristig eine Teuerung von 2 Prozent an. Für eine Übergangszeit nimmt sie auch ein Überschreiten dieser Zielmarke in Kauf, um weiterhin mit viel billigem Geld die Konjunkturerholung in der Eurozone anschieben zu können. Die EZB hilft damit auch hoch verschuldeten Staaten wie Italien, die sich deshalb sehr günstig refinanzieren können.

Für viele Arbeitnehmer bedeutet die hohe Inflation einen realen Kaufkraftverlust. Die Löhne von Millionen Beschäftigten mit einem Tarifvertrag werden dem gewerkschaftsnahen Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Institut (WSI) zufolge 2021 erstmals seit einem Jahrzehnt langsamer steigen als die Verbraucherpreise. Unter Berücksichtigung der im ersten Halbjahr abgeschlossenen Verträge und der in den Vorjahren für 2021 vereinbarten Erhöhungen dürften die Tariflöhne um durchschnittlich 1,6 Prozent zulegen.