Ist Infineon der letzte Mohikaner in der europäischen Elektronikindustrie oder das gute Beispiel, dass es auch in Europa ein Hightech-Leben geben kann?
WOLFGANG EDER: Wir haben in Europa, im Vergleich zu den USA und China, zu oft ein etwas eigenartiges Selbstverständnis, wenn es um technologische Entwicklungen geht. Gerade die Halbleiterindustrie Europas braucht sich nicht zu verstecken. Wir können – schon aus Kostengründen – nicht mit Massenproduktion brillieren, aber mit Technologie. Ich sehe Infineon am besten Weg, der führende Mohikaner in Europas Halbleiterindustrie zu werden. Wir müssen in dieser Zukunftsindustrie nicht die Größten sein, wir müssen die Besten sein.

In einem Auto sind heute schon 50 bis 150 Halbleiter verbaut, bei einem halbautonom fahrenden Elektroauto könnten es bis zu 3000 Stück sein. Bedeutet autonomes Fahren, das Fahren in die Hände der Halbleiter zu legen?
De facto ja. Ohne Halbleiter würde das autonome Fahren nie funktionieren. Infineon ist da weltweit ganz vorne mit dabei. Es macht sich jetzt bezahlt, dass man als deutsches Unternehmen angesichts der Stärke der deutschen Autoindustrie und deren Zulieferunternehmen strategisch stark auf das Auto gesetzt hat. Das autonome Fahren wird diesen Trend noch weiter verstärken.

Neben dem autonomen Fahren erwartet die Branche auch bei der Elektromobilität, im Energiebereich, beim Internet der Dinge, der Sicherheit und der Datenverarbeitung einen Boom. In welchen Bereichen sollte sich Europa positionieren?
Zuerst einmal müssen wir uns als Europa klar zwischen den USA und China als verlässliche dritte Option positionieren, dazu braucht es aber auch den politischen Willen. Viele Kunden wollen Lieferanten, die nicht permanent handelspolitischen Risiken ausgesetzt sind. Diese Chance muss Europa nutzen und nicht der größte, aber ein sehr solider und berechenbarer Partner im absoluten High-Tech-Bereich werden.

Welche Rolle wird denn in den Zukunftsszenarien der Standort Villach spielen?
Infineon hat – jetzt rückblickend noch einigermaßen rechtzeitig vor dem heutigen Boom – die Entscheidung für den Bau einer voll automatisierten 300 Millimeter-Chipfabrik für Energiesparchips getroffen. Mit dem 1,6 Milliarden Euro teuren Werk steht eine der effizientesten Halbleiter-Fabriken weltweit in Villach.

Facharbeiter und Facharbeiterinnen sind Mangelware, werden Sie die 400 benötigten Fachkräfte finden können?
Das Management von Infineon Austria hat schon vor Baubeginn zu suchen begonnen, nicht nur in Österreich, sondern in der ganzen Dreiländerregion und ist jetzt gut aufgestellt.

Der Trend bei Halbleitern geht dahin, dass immer mehr auf immer weniger Platz haben muss. Europa hinkt hinterher. Warum?
Da geht es – vereinfacht ausgedrückt – um durchaus anspruchsvolle Massenware, im Sinne von Standardprodukten, die wir in Europa bisher – nicht zuletzt aus Kostengründen – nicht gefertigt haben. Die großen Auftragsfertiger in Taiwan, in Südkorea und den USA entwickeln nicht, sondern produzieren nach Kundenspezifikation riesige Mengen, vielseitig einsetzbar, aber nicht spezifisch. In Europa werden dagegen Chips im Sinne von Spezialitäten produziert, die uns von anderen globalen Anbietern unterscheiden. Als Systemanbieter braucht man aber beides.

Heißt das, bei der Massenware sind wir von Asien und den USA abhängig?
Ja, da gibt es in einer Reihe von Bereichen eine große Abhängigkeit. Deswegen läuft in der EU gerade sowohl auf politischer als auch unternehmerischer Ebene eine Diskussion, wie wir aus dieser Abhängigkeit herauskommen. Zur Debatte steht eine Fabrik in Europa zur zumindest teilweisen Abdeckung des Eigenbedarfs. Wo sie stehen soll, wie groß sie sein soll, mit welchen Partnern und auf Basis welcher Technologie zusammengearbeitet werden soll, ist noch nicht entschieden. Ich finde es vor dem Hintergrund der permanenten globalen Handelsauseinandersetzungen wichtig, dass es diese Diskussion gibt und ich hoffe, sie kommt zu einem guten Ende.

Im Jahr 2000 haben die EU- Staatschefs in Lissabon beschlossen, die EU zum dynamischsten Wirtschaftsraum der Welt zu machen. Das ist kläglich gescheitert. Wundert Sie das?
In der Vergangenheit haben wir gelernt, dass sich die EU viel vornimmt und dafür auch hohe Summen in den Raum stellt. Sie hat aber zu wenig Augenmerk darauf gelegt, wie diese Vorhaben umgesetzt werden können und was dafür an Voraussetzungen notwendig ist. Etwa ob es genügend qualifiziertes Personal und die notwendige Ausbildung dafür gibt. Die Uneinigkeit unter den Mitgliedsländern und zu viele Partikularinteressen tun ihr übriges, dass viele Projekte nicht halten, sofern sie überhaupt umgesetzt werden.

Hat Europa den Ernst der Lage, was seine Industrie- und Standortpolitik betrifft, erkannt?
Ich hoffe es, denn viele Chancen werden wir nicht mehr bekommen, der Druck der anderen globalen Wirtschaftsräume wird immer größer. Es gibt viele Gespräche, viele Ideen, am Ende muss aber künftig davon viel mehr übrig bleiben als bisher.

Europa stellt insgesamt rund acht Prozent der Weltbevölkerung, erwirtschaftet 25 Prozent der weltweiten Wirtschaftsleistung, und steht für 50 Prozent der weltweiten Sozialausgaben. Wird sich die EU das ohne Industrie weiter leisten können?
Das ist genau der Punkt. Europa ist der Kontinent, wo sich der Humanismus und das humanistische Weltbild entwickelt und durchgesetzt hat wie nirgends sonst. Ein unglaubliches Asset für alle Menschen und die Gesellschaft. Die Grundsatzfrage ist: bleiben wir dabei? Dann müssen uns die 50 Prozent Sozialaufwand etwas wert sein. Dafür müssen wir aber die Effizienz unseres Tuns und Handelns politisch wie auch gesellschaftlich auf eine zeitgemäße, dauerhafte und vor allem wirklich EU-weite Basis stellen. Ich frage mich, ob das Bewusstsein dafür ausreichend da ist, und ich frage mich noch mehr, ob der gemeinsame politische Wille ausreichend da ist. Oder was passieren muss, um ein Handeln in Richtung Erhaltung dieses einmaligen europäischen Assets von außen zu erzwingen. Die Pandemie hat offenbar nicht ausgereicht.