Das Österreich-weite Öffi-Ticket als erste Stufe des 1-2-3-Tickets wurde für das erste Halbjahr 2021 angekündigt. Ist schon klarer, ob und wann genau es kommt?
LEONORE GEWESSLER: Das erste Halbjahr ist unsere Zielzone, wir arbeiten mit Hochdruck daran. Wenn alle guten Willens sind, schaffen wir das.

Herr Matthä, die ÖBB, deren technisches System dahinter steht, ist startklar?
ANDREAS MATTHÄ: Wir bereiten unsere IT-Systeme schon darauf vor. Wir geben ja unser Vertriebssystem her, damit das überhaupt möglich wird, weil wir als einzige alle Verkehrsverbünde mit allen Haltestellen - über 40.000 - im System haben. Das System wird als Gesellschaft in eine neutrale Zone ausgegliedert - was für uns mental ein sehr großer Sprung ist. Umgekehrt wird das ein extrem attraktives Angebot, das uns viel mehr Passagiere bescheren wird.

Wie viele Passagiere mehr?
MATTHÄ: Wir verkaufen normalerweise 20.000 Jahreskarten und erwarten in der Anfangsphase schon rund 100.000 Nutzer beim österreichweiten Klimaticket.

Wie kommen Sie auf die Zahl?
MATTHÄ: Überall, wo die Preise gesenkt wurden, sehen wir einen Sprung in der Nachfrage. Etwa in Vorarlberg oder Tirol. Wir arbeiten auch intensiv daran, die Kapazität zu erhöhen.

Sind denn jetzt alle Verkehrsverbünde verlässlich an Bord? Zuletzt haben sich ja mehrere Verbünde gegen die frühere Einführung der 3er Stufe gestemmt.
GEWESSLER: Auf das Ticket warten viele. Es ist eines der beliebtesten Projekte im Regierungsprogramm. Klar, das ist eine Revolution im öffentlichen Verkehr. Natürlich gibt es viele technische und vergaberechtliche Fragen, aber wir haben das Budget dafür gesichert. Der Bund übernimmt sämtliche Kosten für die Österreichstufe. Wir sind also sehr weit.

Wie berechtigt ist die Sorge der Verbünde, für eigene Ausbau-Projekte kein Geld mehr zu haben, wenn demnächst auch die Flächentickets für ein oder zwei Bundesländer eingeführt werden? Die wollen keine Einzelschritte, sondern eine Verschiebung und eine gleichzeitige Einführung aller Stufen.
GEWESSLER: Wir erarbeiten gerade für alles die kalkulatorischen Grundlagen, das geht nicht so schnell, deshalb macht die stufenweise Einführung Sinn. Der Bund wird seine Mitfinanzierungsverantwortung übernehmen.

Wie sind die Einwände der Verbünde einzuordnen?
GEWESSLER: Eine Tarifreform in der Größenordnung hat es bisher noch nie gegeben. Der öffentliche Verkehr muss aber über diesen Weg zur Grundmobilität werden. So, dass ich klar und einfach sehr geringe Grundausgaben für meine Mobilität habe. Darüber hinaus kann ich dann ein Auto organisieren, wenn ich es brauche. Da müssen wir langfristig hin. Momentan ist es umgekehrt. Deshalb sind Flächentickets so ein wichtiger Baustein, um zusammen mit einem guten Angebot und guter Infrastruktur den öffentlichen Verkehr zur attraktivsten Mobilitätsform zu entwickeln.  

Die größte Hürde ist, wer in den beiden anderen Stufen wie viel von den Einnahmen kriegt?
GEWESSLER: Wir bekommen da sehr viel Input von den Verbünden, wie das gerecht funktionieren könnte. Es gab im November ein sehr konstruktives Treffen der Landesverkehrsreferenten, noch im Dezember ist das nächste geplant. Wir sind mittlerweile in einem Stadium, wo wir Vertragsentwürfe diskutieren. Die Verbünde bleiben auch sicher weiterhin das Gesicht zum Kunden.

Ist es dann vielleicht möglich, doch alles gleichzeitig auf die Schiene zu stellen?
GEWESSLER: Dafür sind die Voraussetzungen in den Ländern zu unterschiedlich. Wir werden bei dem 2er- und 1er-Ticket wahrscheinlich auch zeitlich differenzierte Lösungen finden. Wenn es nach mir geht, so rasch wie möglich.

Es geht um viel. Allein um 40 Millionen Euro jährliche Mehrkosten in der Steiermark, wie kürzlich der steirische Verkehrsverbund-Chef Peter Gspaltl der Kleinen Zeitung erklärte.
GEWESSLER: Um das sagen zu können, arbeiten wir an einer gemeinsamen Kalkulationsbasis. Für das Dreier-Ticket haben wir das schon mit 95 Millionen Euro 2021, 145 Millionen 2022 und 160 bis 170 Millionen in den Jahren 2023/24.

Was hat es mit der Kritik, der gesamte Verkauf laufe über die ÖBB-Ticketstellen, auf sich?
MATTHÄ: Das Vertriebssystem steht in Zukunft über eine eigene Gesellschaft allen Verbünden zur Verfügung.

Wie sehen  die aktuellen ÖBB-Passagierzahlen im Lockdown aus?
MATTHÄ: Im Fernverkehr liegen wir bei minus 70, im Schnellbahnverkehr bei minus 60 Prozent. Im Güterverkehr läuft es schon wieder besser.

Wann braucht es die nächste Geldspritze für den Betrieb auf der West-Strecke? Kommt man mit dem Geld der zweiten Notvergabe für ÖBB und Westbahn bis zum Frühjahr durch?
MATTHÄ: Die jetzige Notvergabe läuft bis zum 7. Februar. Alles weitere hängt natürlich vom weiteren Verlauf der Pandemie ab.

In wenigen Tagen wäre die Nachtzug-Verbindung nach Amsterdam eröffnet worden.
MATTHÄ: Es bringt wegen der Einschränkungen nicht viel, den jetzt auf die Reise zu schicken. Wir haben das auf das Frühjahr verschoben. Und wer weiß, vielleicht wird das Jahr 2021 der Big Bang im Nachtzugverkehr. Mal sehen, ob da nicht noch der Weihnachtsmann etwas bringt.

Was darf man da erwarten?
GEWESSLER: 2021 ist Europäisches Jahr der Bahn, muss man dazu sagen. In Brüssel stehen wichtige Entscheidungen an, um die Bahn zu stärken. Wir in Österreich werden sicher auch etwas zum Vorzeigen haben.

Werden die Rekord-Passagierzahlen von 2019 mit 267 Millionen Fahrgästen überhaupt so bald wieder zu erreichen sein?
GEWESSLER: Wir wollen schon 2021/22 wieder an das Rekordjahr  anschließen.

Der neue Rahmenplan für den Bahnausbau ist mit 17,5 Milliarden Euro für 2021 bis 2026 historisch hoch: Ist damit schon ein relativer Idealzustand für die Bahn erreicht?
MATTHÄ: Auf Basis sich verändernder Verkehrsprognosen braucht es sicher noch einen ganzheitlichen Masterplan, in dem auf die Vernetzung der Verkehrsträger geschaut wird. Den muss man jetzt bald entwickeln, damit man ihn dann hat, wenn man ihn braucht.

Stichwort Jobs: Wie viele wird die Bahn in den nächsten Jahren schaffen?
MATTHÄ: Wir werden in den nächsten Jahren ein Viertel unserer Belegschaft, etwa 10.000 Mitarbeiter in den wohlverdienten Ruhestand schicken. Wir suchen trotz Corona und Krise Mitarbeiter. Wir haben alle Lehrwerkstätten modernisiert, zuletzt eine ganz neue in Knittelfeld eröffnet, die auf dem letzten Stand der Technik ist. Das bedeutet auch, dass es nicht nur um Schlosser oder Elektriker geht, sondern auch um neue Lehrberufe mit Robotik oder Elektronik, weil wir diese Leute dann brauchen werden. Was man auch oft vergisst: Wir haben in Österreich  eine strake Bahnindustrie. In absoluten Zahlen ist sie die weltweit fünftgrößte hinter China, den USA, Mexiko und Deutschland. Für so ein kleines Land ist das eine große Chance. Das bedeutet auch, wenn wir Investitionen in heimische Infrastruktur tätigen, dass wir 90 Prozent Wertschöpfung im Inland haben und damit pro Milliarde Euro für die Bahn etwa 15.000 Arbeitsplätze im Zulieferumfeld sichern können. Das Geld, das in den Ausbau geht, wird viel bewegen. Das ist am Ende des Tages die Basis für die Verkehrswende.

Herr Matthä, braucht der Flughafen Wien eine dritte Piste?
MATTHÄ: Das kann ich nicht im Detail beurteilen. Aber grundsätzlich sollten Kurz- und Mittelstreckenflüge in Europa durch attraktive Zugverbindungen substituiert werden.

Was sagen Sie, Frau Minister? Markus Söder von der CSU hat eine neue Piste in München abgesagt.
GEWESSLER: Der Sektor wird sich verändern, das weiß auch die die Industrie, und das weiß auch der Flughafen Wien. Die Entscheidung liegt dort, aber ich bin davon überzeugt, sie wird im Lichte dieser Entwicklungen getroffen.. Wie werden in Europa weniger fliegen – nicht zuletzt durch die Zäsur Corona. Daran arbeiten wir auch. Übersetzt in Politik heißt das, 500 Millionen Euro für Nachtzüge zu investieren, um ein konkretes Beispiel zu nennen. Sich für eine Stunde Meeting in Brüssel in den Flieger zu setzen, wette ich, das kommt nicht wieder. Das wissen wir jetzt alle, wo uns ganze Tage durch die Digitalisierung geschenkt werden. Zudem geht es natürlich um Kostenwahrheit zwischen Straße und Schiene.

MATTHÄ: Man hat vor Corona total unterschätzt, wie viel man unproduktiv herumtingelt. Ich habe kürzlich zufällig entdeckt, dass es einen Flug von Brünn nach Wien gibt. Da ist die Bahn auf jeden Fall die bessere Alternative.

Warum Sind Sie das Dieselprivileg noch nicht angegangen, Frau Minister?
GEWESSLER: Wir haben in der Steuerreform sehr konkrete Schritte vereinbart, der erste war die Flugticketabgabe, der nächste die Reform der Normverbrauchsabgabe Nova, die da ansetzt, wo wir das größte Problem haben, nämlich im SUV-Bereich. Vor zehn Jahren waren die eine Randerscheinung, inzwischen ist jede dritte Zulassung ein SUV. Wir haben in den letzten drei Jahren bei den  Neuzulassungen im Durchschnitt steigende Emissionen gehabt. Die müssen aber sinken. Alle weiteren Schritte, die im Regierungsprogramm stehen, vom Tanktourismus bis zum Pendlerpauschale und einer CO2-Bepreisung im Jahr 2022, werden wir Stück um Stück abarbeiten.

Wenn wir bald alle E-Autos fahren, warum brauchen wir eigentlich so viel Geld für die Bahn?
GEWESSLER: Weil eine Mobilitätswende etwas anderes ist, als fünf Millionen Diesel- oder Benzinautos durch E-Autos zu ersetzen.