Wohin steuert Europa nach der Coronakrise? Andreas Treichl, langjähriger Bankmanager und neu gewählter Präsident des Europäischen Forum Alpbach, ging am Montag im Rahmen einer Diskussionssendung im digitalen Format dieser Frage nach. Im Gespräch mit Ernst Sittinger (Kleine Zeitung) legte er dar, welche Herausforderungen er aus der kollektiven Krisenerfahrung ableitet und wie wir jetzt vor neuem Hintergrund den ökologischen Umbau der Wirtschaft bewältigen können.

Treichl startete seine Bankkarriere in New York und war von 2008 bis 2019 Vorstandschef der Erste Group Bank AG. Die Veranstaltung ist der erste Schritt zum Pfingstdialog 2021 der Reihe „Geist & Gegenwart“.

Europa habe wirtschaftlich "völlig den Zug verpasst"

Gleich zu Beginn des Impulsvortrags machte Treichl die Form des Gesprächs zum Thema. Es sei eine Art der Kommunikation, beschrieb er die Videokonferenz, die "wir im Begriff sind zu lernen". Es sei eine Form, in der man "kürzer und prägnanter" sein müsse. Und es sei nicht zuletzt eine Form, die von Unternehmen technologisch entwickelt und bestimmt werde, die nicht in Europa sitzen.

Was kein Wunder sei, betonte der einstige Top-Banker. Denn während Europa in der Wissenschaft weiter eine "große Rolle" spiele, habe man wirtschaftlich "völlig den Zug verpasst". Zudem sei die "politische Stimme Europas" eine, die "außerhalb von Europa keine bedeutende" sei.

"Wir haben es schon einmal geschafft"

Gleichzeitig wollte Treichl an diesem Abend nicht nur Unheil verkünden. Viel mehr erinnerte er an einen europäischen Geist, der aus dem darniederliegenden Kontinent nach 1945 innerhalb kurzer Zeit eine wirtschaftliche Großmacht formte. Treichl: "Wir haben es schon einmal geschafft. Warum nicht noch einmal?"

Der Volkswirt erinnerte etwa an die 1970er und 80er-Jahre als "wir in Europa eine Wirtschaftsunion waren". Heute sei das nicht mehr der Fall, es zeige sich "keine Union der Daten, keine Union der Datentransfers oder des Datenschutzes". Vielmehr würde man in den bald 27 Ländern – Treichl zum Brexit: "Scheußliches Ereignis ohne Gewinner" – 27 unterschiedliche Situationen und Regularien vorfinden, wie man mit neuen Technologien umgehe. 

Gleichzeitig ist es in den Augen des neuen Präsidenten des Forums Alpbach ein großes Versäumnis, dass es nach wie vor keinen gesamteuropäischen Kapitalmarkt gebe. Auch deswegen, so Treichl, seien "zwei Drittel der europäischen Pensionsfonds in den USA investiert". Um dann noch provokanter zu formulieren: "Unsere Pensionisten finanzieren das Wachstum der USA oder Chinas mit, weil es innerhalb der EU zu wenig zu investieren gibt".

Ohne europäischen Kapitalmarkt sieht Treichl auch die Rolle Europas in einer anderen Zukunftstechnologie gefährdet, nämlich in Sachen Umwelttechnologie. Treichl: "Europa wird dann vielleicht führend in der Entwicklung von grüner Technologie sein. Aber Europa wird nie führend bei grüner Technologie sein."

Schlussendlich liege es aber nun auch an "aktiven Politikern", Europa dorthin zu steuern, "wo es schon einmal war". Treichl, am Abschluss seines Vortrags süffisant: "Ich hoffe, diese Politiker sind schon unter uns".