Das deutsche Bundesverfassungsgericht beanstandet die milliardenschweren Staatsanleihenkäufe der Europäischen Zentralbank (EZB) und stellt sich damit zum ersten Mal gegen ein Urteil des höchsten EU-Gerichts. Der Europäische Gerichtshof (EuGH) hatte dem Programm im Dezember 2018 recht pauschal seinen Segen erteilt. Massive Bedenken aus Karlsruhe ignorierten die Luxemburger Richter in ihrer Vorabentscheidung.

Die Notenbank habe mit dem 2015 gestarteten Programm ihr Mandat für die Geldpolitik überspannt, entschieden indes jetzt die Karlsruher Richter mit ihrem am Dienstag verkündeten Urteil.

Gleich vorweg: Die Entscheidung hat keine Auswirkungen auf die aktuellen Coronahilfen der EZB.

Was aber bedeutet der Spruch dann?

Nun, die Deutsche Bundesbank darf sich noch maximal drei Monate an dem Kaufprogramm in seiner jetzigen Form beteiligen. Innerhalb dieser Frist müssen die deutsche Regierung und der Bundestag aktiv werden. Sie haben die Pflicht, darauf hinzuwirken, dass die EZB die Anleihenkäufe nachträglich auf ihre Verhältnismäßigkeit prüft.

Urteil könne "irritierend wirken"

In der Coronakrise, die die europäische Solidarität in nie da gewesener Weise herausfordere, könne das Urteil "auf den ersten Blick irritierend wirken", sagte Gerichtspräsident Andreas Voßkuhle. Aber: "Um die Krise und ihre Folgen nachhaltig zu bewältigen, brauchen wir das Recht als festes gemeinsames Fundament." Das deutsche Bundesverfassungsgericht schlage der EZB auch "keine Handlungsmöglichkeiten von vornherein aus der Hand".

Zwischen März 2015 und Ende 2018 hatte die Notenbank rund 2,6 Billionen Euro in Staatsanleihen und andere Wertpapiere gesteckt - den allergrößten Teil über das Programm PSPP (Public Sector Purchase Programme), auf das sich das Urteil bezieht. Zum 1. November 2019 wurden die umstrittenen Käufe neu aufgelegt, zunächst in vergleichsweise geringem Umfang von 20 Milliarden Euro im Monat.

Mittel, um Inflation anzuheizen

Über Anleihenkäufe kommt viel Geld in Umlauf, das heizt normalerweise die Inflation an. Die EZB strebt mittelfristig eine Teuerungsrate knapp unter 2,0 Prozent an. Denn stagnierende oder fallende Preise können Verbraucher und Unternehmen verleiten, Investitionen aufzuschieben. Das kann die Konjunktur bremsen.

Die Deutsche Bundesbank ist der größte Anteilseigner der EZB, mit etwas mehr als 26 Prozent. Entsprechend groß ist ihr Kaufvolumen.

In ihrem 135-seitigen Urteil kommen die deutschen Richter jetzt zu dem Ergebnis, dass die Notenbank offensichtlich ihre Kompetenzen überschritten habe. Das Programm habe "erhebliche ökonomische Auswirkungen auf nahezu alle Bürgerinnen und Bürger, die als Aktionäre, Mieter, Eigentümer von Immobilien, Sparer und Versicherungsnehmer betroffen sind", sagte Voßkuhle. Für Sparvermögen ergäben sich deutliche Verlustrisiken, die Immobilienpreise stiegen überproportional. Außerdem begebe sich das Eurosystem in Abhängigkeit von der Politik der Mitgliedstaaten.

Diese Auswirkungen soll die EZB nun nachvollziehbar gewichten und mit ihren Zielen und den erhofften Vorteilen in Beziehung setzen. Anders sei eine effektive gerichtliche Kontrolle nicht möglich, hieß es.

"Abkehr von Obergrenze schwierig"

"Offenbar ein kleiner Paukenschlag", befindet Holger Schmieding von der Berenberg Bank. Dennoch dürfte das Urteil "in der Praxis die EZB nicht allzu sehr einschränken". Gleichzeitig könne es der EZB nun schwerer fallen, das Anleihenkaufprogramm weiter auszudehnen.

Jürgen Michels von der BayernLB sieht eine "eindeutige Stärkung der Ankaufobergrenze und des Kapitalschlüssels. Und: "Damit dürfte, solange der Bundestag einer Überschreitung dieser Grenzen nicht ausdrücklich zustimmt, eine Abkehr von dieser Obergrenze schwierig sein und der Handlungsspielraum der EZB eingeschränkt."