Führung im digitalen Wandel lautet der Titel eines Vortrages von Ihnen vor dem Wirtschaftsforum der Führungskräfte. Was kennzeichnet das Management von morgen?

BERND HUFNAGL: Das Management von morgen hat sich, so wie das Mangement von heute schon, dem digitalen Wandel angepasst. Es gibt Veränderungen, die ganz auffällig sind. Das beginnt bei der Persönlichkeit des Betroffenen, bei der Führungskraft selbst und endet beim systemischen Problem. Durch die Digitalisierung nehmen wir die Arbeit mit, wir schalten im Urlaub nicht ab, wir können Wichtiges vom Unwichtigen nicht mehr unterscheiden, wir werden ungeduldig und oberflächlich. Und wenn das Führungskräfte betrifft, die andere entwickeln und fördern sollen, wird das schwierig. Im absoluten Top-Management, die CEOs der großen Konzerne, die ich kennengelernt habe in den letzten 15  Jahren, ist es jetzt vielleicht nicht das größte Drama, aber im mittleren Management sehr wohl. Sie müssen eine Pufferrolle einnehmen, die wichtiger wird denn je, denn den Druck von oben wird immer größer und muss abgefedert werden: Internationalisierung, Globalisierung, großer Wettbewerbsdruck. Und das Problem, das wir durch die Digitalisierung und die Beschleunigung, die damit einhergeht, einfach auch sehen können: Wir beschleunigen weiter, statt dass wir abbremsen.

Das Management wird da voll gefordert oder ist es bereits überfordert?

Die Nebenwirkungen, die auch das obere Management zeigt, sind bei der speziellen Rolle eines Top-Managers nicht so dramatisch für die Belegschaft. Die sind ohnehin Orientierungsgeber. Aber die Aufgabe des mittleren Managements, also schon der ersten Ebene unter dem Vorstand oder Geschäftsführer, hat eine andere Rolle - nicht nur faktisch, sondern auch im Umgang mit Menschen. Die müssen das ja weitertragen, weiter delegieren, weiter Orientierung geben. Und der wichtigste Punkt in dieser Rolle es, Menschen zu beruhigen, sie wieder zu bremsen und nicht weiter zu beschleunigen, um effizienter zu werden. Der naive Glaube, der heute besteht, ist, dass wir, wenn wir noch mehr beschleunigen, den Druck weitergeben, effizienter und schneller sind. Das Gegenteil ist der Fall.

Welche Ansätze gegenzusteuern, liefert die Hirnforschung?

Wo wir mittlerweile am meisten ansetzen müssen, wird Sie wahrscheinlich überraschen, weil das gar nicht nach Hirnforschung klingt. Aber es hat viel mit der Jammerkultur und dem steigenden Zynismus zu tun. Ab dem mittleren Management und erst recht auf der Mitarbeiterebene ist diese Jammerkultur sehr stark ausgeprägt und dort setzen wir an. Bestimmte Netzwerke in unserem Hirn haben unsere Vorfahren vor Millionen von Jahren entwickelt. Diese hatten keine digitale Welt, sondern eine völlig analoge. Wir haben aber noch immer dasselbe Hirn. Es hat sich nicht angepasst an die neue Welt. Die Hardware zumindest nicht, die Software schon. Wir passen uns relativ schnell softwareseitig vom Verhalten an, aber die Hardware bleibt dieselbe. Das heißt, die Wahrnehmung ist nach wie vor sehr ursprünglich in bestimmten Netzwerken in unserem Hirn.

Welche meinen Sie?

Ich meine das Belohnungsnetzwerk in unserem Hirn. Wir müssen etwas wie Belohnung, ein belohntes Gefühl, Begeisterung, Motivation, verspüren. Wir bekommen nämlich nur dann das Belohnungshormon Dopamin, das unser Hirn produziert, wenn wir uns begeistert und motiviert fühlen. Das bekommen wir nur dann, wenn wir zeitnah sehen können, wofür wir uns anstrengen - das ist die Handwerkerlogik.

Wie ändert sich die Ausschüttung des Dopamins mit der Digitalisierung?

Wir müssen den Fortschritt in Richtung unseres angestrebten Ziels erkennen. In der digitalisierten Welt sehen wird das nicht. Menschen, die in der Excel-Tabelle leben, sehen ja nur Zahlen. Sie gehen am Ende des Tages nach Hause und sind erschöpft, sehen aber keinen Wert.

Das ist ja die Arbeitsteilung, die damit nochmal zugenommen hat, oder?

Natürlich. Wir fragmentieren die Arbeitswelt noch weiter. Wir arbeiten ja nicht nur arbeitsteilig, wie zu Beginn der Industrialisierung, sondern auch zeitteilig. Es arbeiten schon mehrere Menschen zeitgleich an ein und demselben. In den meisten Organisationen, bei Projekten, da arbeiten mehrere, viele Menschen teilweise sogar international und kontintenteübergreifend, an ein und derselben Sache. Das heißt, es gibt viele Schnittstellenprobleme und der Einzelne weiß gar nicht mehr, was er eigentlich leistet. Mitarbeiter erzählen mir praktisch jeden Tag, wie frustrierend das ist. Und da muss man dagegensteuern. Ich gebe ihnen Daten einer neuesten Studie aus Deutschland, die da perfekt dazu passt. 57 Prozent der deutschen Arbeitnehmer, die mit einem Computer arbeiten, ertappen sich bei Folgendem: Kurz bevor sie nach Hause gehen, am Ende des Arbeitstages, wenn sie beginnen, die Computerprogramme zu schließen, finden diese Menschen in der Task-Leiste noch ein, zwei Files geöffnet, die sie an diesem Tag begonnen haben, aber völlig vergessen haben, dort weiterzuarbeiten.

Das ist eine Form digitaler Demenz, oder?

Ich würde es nicht übertreiben mit dem Begriff Demenz, der Begriff ist zu pathologisierend. Das ist aber sicher eine der großen Fallen für die Nichtproduktion des Dopamins. Man hat zwar viel geleistet
und getan, aber ein Teil meines Unterbewusstseins im Hirn, das dieses Dopamin verwaltet und produziert, hat das Gefühl, dass nichts passiert ist.

Wenn wir nicht hirngerecht arbeiten, was richtet das dann mit uns an?

Das geht von harmlosen Dingen, wie Oberflächlichkeit, gefühlter Beschleunigung, bis dahin, dass man Wichtiges von Unwichtigem nicht mehr unterscheiden kann. Jedes Ding auf ihrer To-Do Liste bekommt
dieselbe emotionale Wichtigkeit, was es natürlich nicht hat. Das geht aber auch schlimmer. In der Medizin wird es dramatischer. Alle Stresssymptome nehmen deutlich zu, Frustration nimmt zu,
bis zu Burnout-Erkrankungen, je nach persönlicher Prädisposition. Nicht jeder bekommt Burnout, aber manche Menschen sind in dieser Welt des Virtuellen gefangen. Wo dann noch Leistungsdruck und gefühlte Beschleunigung durch Informationsflut dazukommt, sind manche Menschen, die Perfektionisten sind oder beispielsweise einen Kontrollzwang haben, gefährdet. Also das geht von harmlosen Dingen bis zu sehr schwerwiegenden medizinischen Problemen.

Was sollten wir ändern? Und wie sollten Manager ihre Mitarbeiter führen?

Manager müssen wissen, wie unser Gedächtnis funktioniert. Wir neigen zur Dramatisierung, wir steigern uns in Sachen hinein und wenn wir wissen, was passiert, wenn wir uns reinsteigern, dass wir unser Gedächtnis, unsere Wahrnehmung auf diese Welt, verändern. Die Gefahr ist dann extrem groß, dass auch durch soziale Medien bestimmte Dinge zur Wahrheit erhoben werden. Mythen, Gerüchte und Vorurteile nehmen nicht nur in unserem sozialen Leben zu, sondern tatsächlich auch am Arbeitsplatz.

Also Fake-News sozusagen auch am Arbeitsplatz?

Absolut, genau das ist es. Das nimmt zu. Mitarbeiter glauben immer irgendwelchen Gerüchten, jammern sich in einen Strudel hinein und verstehen nicht, dass wir hier eine Wirklichkeit kreieren. Das wir diese Dinge, die wir ständig bejahen, auch irgendwann mal glauben. Mitarbeiter glauben, dass der Vorstand ein Monster ist, dabei haben sie noch nie mit ihm gesprochen. Weil sie sich reinsteigern und ständig drüber reden - über Halbwahrheiten. Und das ist das eine, das muss das Management, vor allem das mittlere Management, wissen. Deren Rolle ist nicht, sich hineinzusteigern, sondern sich "rauszusteigern". Und das andere, was fast noch wichtiger ist: Wir brauchen Musen. Was meine ich damit? Innere Ruhe, Freiräume, wir müssen tagträumen. Tagträumen ist so wichtig, weil das Tagträumernetzwerk, das ein Erregungsnetzwerk im Gehirn ist, nur aktiv wird, wenn man nicht zielgerichtet denkt oder handelt. Und das tun Menschen in der digitalisierten Welt kaum noch. Wir sitzen ständig mit irgendeinem Gerät herum, selbst am Strand in Caorle, und wischen herum. Wenn dieses Netzwerk nie in Ihnen aktiv ist, weil sie keine Muse haben und keine Ruhe geben, dann können sie nicht mehr spüren was andere spüren, das heißt, sie verlieren ihre Fähigkeit zur Empathie. Wenn sie Führungskräfte verlieren, wird das spannend. Dann spüren sie nicht mehr, was andere spüren. Und was noch viel dramatischer ist: Wir können nicht mehr von einer Außenperspektive auf unser eigenes Leben blicken, das heißt wir sind nur mehr gefangen in einem To-Do-Listen-Abhakmodus, wir funktionieren nur mehr. Und wir stellen uns wichtige Fragen nicht mehr, ob es überhaupt passt in meinem Leben, ob ich das Geld ins Richtige investiere, oder ob ich überhaupt den richtigen Partner und richtigen Job habe.

Ich schaff es also gar nicht mehr auf eine andere Ebene zu switchen, sondern bin nur noch im Bergwerk?

Nur mehr im Funktionsmodus, genau. Aber was wird von Führungskräften gefordert? Agiles Führen in einer unsicheren, komplexen und nicht vorhersagbaren Welt. Radikale Innovationen, wir reden von disruptiven Veränderungen, zu managen. Das setzt voraus, dass ich Abstand habe. Von außen draufschauen und reagieren kann - und nicht nur funktionieren.

Zur Erreichbarkeit quasi rund um die Uhr sind Sie auch sehr skeptisch, oder?

Ja, absolut. Wir beschäftigen uns ständig mit irgendwas und geben keine Ruhe. Es ist nicht alles, was wir auf einem Smartphone, Tablet oder Computer tun, gefährlich. Ich möchte auf keinen Fall so erscheinen wie jemand der das alles pathologisiert. Wir brauchen aber auch Digital Detox, das ist wichtig. Ich verlasse morgen Österreich und fahr mit dem Fahrrad in die französischen Alpen und lasse mein Handy da. Ich nehm es nicht einmal mit, trotz Familie, das interessiert mich nicht. Und jeder Mensch braucht das, damit das Hirn weiß, so, jetzt bin ich einmal nicht erreichbar. Das muss nicht gleich eine Woche sein, aber es reicht eine halbe Stunde bis Stunde am Tag.

Was, wenn man fürchtet, dass in dieser Zeit was ganz Schlimmes passiert und ich erfahre es nicht?

Ich nehm da immer ein Beispiel, wenn ich mit Führungskräften diskutiere. Vor etlichen Jahren ist ein Bauunternehmer zu mir gekommen und hat mir erzählt, dass er aus völliger Verzweiflung nach dem Urlaub von drei Wochen seine 1400 ungelesenen E-Mails im Posteingang markiert und gelöscht hat. Da waren aber Mails von seinem Vorstand dabei, von seinen Kunden, von Mitarbeitern und wissen Sie was wirklich passiert ist? Drei von 1400 Absendern haben nachgefragt, was eigentlich los ist und warum er nicht antwortet. Wir mutieren zu Sendern, das
Empfangen fällt uns immer schwerer. Zuhören, was Menschen sprechen, Artikel fertig zu lesen, Sendungen fertig schauen und im Kino aufzupassen. 36 Prozent checken während des Kinobesuchs ihre E-Mails - davon muss man sich befreien. Es muss einem klar sein, was das nicht Hirngerechte in dieser Geschichte ist.