In Ihrem Buch schreiben Sie von Kindern in Ihrer Klasse, die so Deutsch sprechen, als wären sie erst vor Kurzem nach Österreich gekommen. Dabei sind sie hier geboren. Wie ist so etwas möglich?

Melisa Erkurt: Diese Kinder haben alle Eltern, die ihnen beim Deutschlernen nicht helfen können. Unser System verlässt sich aber darauf, dass es Eltern gibt, die die Zeit und Ressourcen haben, um zu helfen. Diese Kinder werden dann gleich unterrichtet wie jene, die diese Eltern haben. Dabei bräuchten sie eine ganz andere Form des Unterrichts. Viele scheitern dann irgendwann. Oder aber sie werden weitergeschoben – von Klasse zu Klasse.

Sie schreiben auch, dass manche Gymnasien in Wiener Bezirken eher auf dem Niveau von Mittelschulen liegen und die Notengebung dort nicht der Realität entspricht.

Ich habe in einem Gymnasium unterrichtet. 80 Prozent der Kinder kamen aus sozioökonomisch schwachen Familien. Von den Leistungen her war das wie an einer Neuen Mittelschule. Die Eltern waren Arbeiter oder arbeitssuchend. Viele konnten nicht gut Deutsch.

Sie haben selbst einen ähnlichen Hintergrund. Ihre Eltern stammen aus Bosnien, kannten das österreichische Schulsystem nicht.

Ich wollte zum Beispiel nicht, dass mein Vater in die Schule kommt. Weil mir klar war, dass sich dann auch das Bild meiner Lehrpersonen von mir ändern würde: Die werden mich schlechter bewerten, weil sie sehen, dass mein Vater kein Deutsch kann. Denn dann kann die Tochter ja auch kein Deutsch können. Deshalb hab ich so viel gestrebert, damit meine Eltern nicht in die Schule kommen mussten. Sie hätten auch nicht das Geld für Nachhilfe gehabt.

Ist die Situation für Kinder mit Migrationshintergrund an den Schulen heute besser?

Die Fronten haben sich verhärtet seit den Anschlägen vom 11. September. Es ist schwieriger geworden für muslimische Schülerinnen und Schüler. Wenn du Mohammed heißt, oder Fatima und Kopftuch trägst, dann wirst du oft abgestempelt. Du verbringst deine ganze Schullaufbahn dann entweder damit, zu beweisen, dass du nicht den Vorurteilen entsprichst. Oder du passt dich an und bestätigst die Vorurteile. Letzteres sehe ich derzeit viel stärker. Viele glauben, die Kinder werden konservativer, es herrsche eine Verbotskultur. Aber die Kinder sind auch deshalb so, weil sie auf diese Vorurteile reagieren.

Auch in ihrem Buch „Generation Haram“ thematisieren Sie diese Verbotskultur (Anmerkung: Haram bedeutet so viel wie verboten). Wie haben Sie als Lehrerin versucht, mit solchen Kindern umzugehen?

Ich hab mit ihnen viel über Feminismus gesprochen. Die muslimischen Burschen, die den Mädchen etwas verbieten wollen, gibt es immer noch. Aber die Mädchen sind in den letzten Jahren viel selbstbewusster geworden. Die sozialen Medien leisten da bessere Aufklärungsarbeit als die Schulen.

Das Machogehabe der muslimischen Burschen sei oft ein Schutzmechanismus, schreiben sie.

Ich hatte ein paar in der Klasse. Das waren Burschen, die nicht wussten, was sie mit ihrem Leben anfangen sollen. Bei Ausflügen wurden sie schief angeschaut, ältere Damen haben sich von ihnen weggesetzt. Die Burschen verhärten dann und versuchen sich Macht zurückzuholen und in dem Fall die Macht über Mädchen.

Besteht die Gefahr, dass wir eine ganze Generation junger Männer verlieren?

Wir haben sie ja schon verloren. Wenn ich mir die Namen in der Politik, in Medien, in Aufsichtsräten anschaue: Wo sind denn da die Alis und Mohammeds? Wenn, dann sind eher Frauen in diesen Jobs vertreten, Alma Zadic etwa, aber kaum Männer.

Was muss sich im Bildungssystem ändern?

Die Ausbildung der Pädagoginnen und Pädagogen braucht mehr Diversität und Mehrsprachigkeit, ein zweites Kindergartenjahr muss verpflichtend werden, genauso wie die Ganztagsschule. Man kann sofort etwas bewirken. Dafür muss aber auch die Migranten-Community eingebunden werden.

Die Politik hat zuletzt auf Deutschförderklassen gesetzt.

Die sind für mich ein Mikrokosmos der Parallelgesellschaft, die wir ja eigentlich nicht wollen. Deutsch habe ich selbst vor allem von Kindern gelernt, die schon Deutsch konnten. Wir sehen aber, dass die Kinder in den Deutschförderklassen kaum Kontakt zu den Kindern in ihrer Stammklasse haben. Ja, es gibt ein Problem bei den Deutschkenntnissen von migrantischen Schülerinnen und Schülern. Ich sehe die Lösung aber nicht in separaten Deutschklassen, sondern in der Reform des ganzen Deutschunterrichts, bei dem dann etwa auch Wert auf Sprechtraining gelegt werden muss.

Die Coronakrise hat die Kluft zwischen den Kindern noch größer werden lassen, scheint es. Bald starten die Sommerschulen, für Schüler mit Aufholbedarf in Deutsch. Eine gute Sache?

In zwei Wochen Sommerschule kann man nicht aufholen, was in mehreren Monaten verloren gegangen ist. Wenn es im Herbst zusätzliche Maßnahmen und mehr Unterstützungspersonal geben würde, hätte ich das super gefunden. Aber so macht man für die Ausländerkinder wieder die billigste Version.