Ein Freund hat mich besucht, und im Übergang vom Nachmittagskaffee zum Abendessen hätten wir beinahe alle Probleme dieser Welt bewältigt: Flüchtlinge, Digitalisierung, Gesundheit, Klima.

Letzteres ist kein neues Thema: Ich habe in das Regal gegriffen, vor dem wir saßen, zu der Reihe „Fischer alternativ“ mit ihren kargen Umschlägen, zu der „Technologie und Politik“-Reihe von Rowohlt; daneben stehen die Bücher von Bahro, Fetscher, Jungk, Huber und vielen anderen sowie ein paar Studien aus der Club of Rome-Reihe.

Schon damals, in den 1970er-Jahren, war eigentlich alles bekannt. Quantitatives ist seitdem revidiert worden, wir sind ja gescheiter geworden, die Technik ist ein Stück weitergekommen, die Flüsse und Seen sind sauberer, Ozonloch und saurer Regen beseitigt; aber das eigentliche Problem ist in den letzten fünfzig Jahren ungelöst geblieben.

Überzeugende Lösungen sind – entgegen aktuellen Beteuerungen – nicht in Sicht. Eigentlich irritierend: Warum begibt sich die Menschheit sehenden Auges in ihre größten Krisen? Warum diese fatale Unabwendbarkeit?

Erstens liegt es an der Wissensinkompetenz: Menschen können mit unsicheren Sachverhalten nicht umgehen; auch nicht mit der andauernden Verbesserung (und Korrektur) des Wissens. Das hat sich auch in der Epidemie gezeigt. Der Anspruch an die Wissenschaft ist: sicheres Wissen.

Aber Wissenschaft arbeitet mit Wahrscheinlichkeiten. Für das Klima heißt das: Zur Gänze sind die Grundlagen nicht geklärt. Ein Teil des Klimawandels beruht auf natürlichen Prozessen. Die komplexen Mechanismen der Atmosphäre verstehen wir unzulänglich. Aber alle Wahrscheinlichkeiten sprechen dafür, dass wir Anstrengungen unternehmen sollten – sonst dürfte es vorbei sein.

Doch auch ein paar Prozent Unsicherheit genügen für viele Leute, um „umzukippen“: Wenn es nicht ganz sicher ist, dann ist es vielleicht ganz falsch – und man braucht nichts zu tun. Eine extrem arbeitsteilige und komplexe Gesellschaft ist auf ein hohes Maß an Vertrauen angewiesen. Dieses wird teilweise mutwillig zerstört.

Zweitens das Gefangenendilemma: Klimapolitische Maßnahmen sind meist unbequem, kosten, belasten. Die Situation ist attraktiv, dass sich alle Menschen an Spielregeln halten, ich aber die Regeln durchbrechen darf. Alle schonen den Fischbestand im Meer, dann kann ich auf meinem Dampfer aus dem Vollen schöpfen. (Und tatsächlich: Mein Dampfer allein gefährdet ja nichts.)

Mein Auto allein...

Alle fahren mit öffentlichen Verkehrsmitteln, dann habe ich freie Straßen und genug Parkplätze. (Und tatsächlich: Mein Auto allein verursacht kaum schlechte Luft.) Die Versuchung ist: Man sitzt im Bus und braucht viel Zeit, und da draußen ist Platz genug. Diese Chance ergreifen alle, fahren mit dem Auto, und am Ende stehen sie alle im Stau, fahren im Kreis auf der Suche nach dem Parkplatz und ruinieren die Luftqualität. Am Ende findet man sich in der schlechtesten Situation: viel Zeitaufwand, schlechte Luft, nervig.

Drittens der Inkrementalismus: Es ist wie bei einem Raucher: Die jeweils nächste Zigarette wird ihn nicht umbringen; sie ist sogar für die Gesundheit gleichgültig. Aber jede Zigarette ist die nächste, und am Ende hat man eine deutlich geringere Lebenserwartung. Auf die Umweltpolitik übertragen: Das Verhalten jedes einzelnen trägt so wenig zur Verbesserung der Gesamtsituation bei, dass es im Grunde gleichgültig ist.

Einmal nicht Müll trennen. Einmal eine große Reise tun. Aus der Summe der Vernachlässigbarkeiten, die kein schlechtes Gewissen machen, akkumuliert sich die Katastrophe.

Viertens die globale Relativierung: Europa kann nur einen geringen Teil zur Klimaverbesserung beitragen – die großen Elefanten sind die USA, China und Indien. Soll man hierzulande (wirtschaftliche und soziale) Nachteile in Kauf nehmen, wenn die Großen nicht mitmachen?

Nachhaltig?

85 Prozent des Weltenergieverbrauchs sind nicht nachhaltig. Das wird man mit hübschen Szenarien bis 2030 oder 2050 nur geringfügig ändern. Die Idee, dieses Jahrhundert könnte ein Green Century werden, ist eher liebenswert als realistisch. Es wird wohl ein Black Century. Das Gefühl: Man kann doch nichts retten.

Fünftens die spontane Gedankenlosigkeit: Freilich sind alle für bio-öko-regional-saisonal. Aber im Laden sind doch die Kartoffeln aus Ägypten, die Tomaten aus Spanien und die Äpfel aus Südafrika billiger. Und die Erdbeeren im Winter würden ja bloß weggeworfen, also kann man sie gleich kaufen. Bis zum Gedanken, dass die Erdbeeren aus Südamerika nicht eingeflogen würden, wenn sie niemand kaufte, reicht es nicht mehr. Dazu kommt eine turbokonsumistische Mentalität: Die Post-Lockdown-Öffnung löste ein absurdes Wettrennen aus – als ob nicht 90 Prozent des Zeugs, das gekauft wird, überflüssig ist. Einkaufen und Wegwerfen als Lebenssinn.

Sechstens der Rebound-Effekt: Technische Verbesserungen werden durch gegenläufige Verhaltensweisen aufgefressen. Effizientere Heizung für die Wohnung – als Reaktion wird die Durchschnittstemperatur im Winter erhöht, weil man es sich jetzt leisten kann. Effizienzsteigerung beim Autotreibstoffverbrauch – als Reaktion werden stärkere und größere Autos gekauft, mit Verbrauch und Emission wie zuvor. Effizienzsteigerung bei der Heizung – und das ersparte Geld wird für eine Flugreise genutzt.
Siebtens die Verbrauchssteigerung: keine Rede von Einschränkung. Strombedarf wird explodieren: Klimaanlagen, IT-Energiebedarf – und Elektromobilität. E-Vehikel mit ihrem Zusatz(!)strombedarf fahren in Wahrheit allesamt fossil.

Selbst Wasserstoff, die machbare Option für die Stabilisierung des Stromangebots, braucht zuerst zur Erzeugung mehr Strom. Und dann weltweit die Einkommenssteigerung: China reiht das Klima hintan, weil zuerst Armut beseitigt wird – und demnächst wollen ein paar 100 Millionen Chinesen Europa besichtigen. Und dann kommen 100 Millionen Inder angeflogen.

Achtens der Tunnelblick: Wasser, Wind und Sonne – das wäre die Zukunft. Aber da gibt es Kollisionen mit anderen Zielen. Umweltbewusste Bürgerinitiativen wehren sich vehement gegen Staukraftwerke, Windradanlagen, Stromleitungen. Aber gerade die Rettung der Natur braucht Wasser-Wind-Sonne – aber keine Stromleitungen vor der eigenen Tür. Es geht sich trotzdem alles nicht aus, weil die Angebotsschwankungen zunächst durch eine Verdoppelung des Systems (mit fossilen Mitteln) aufgefangen werden.

Neuntens die Demokratieschwäche: Die Mehrheit ist dem Verzicht theoretisch aufgeschlossen und praktisch unwillig. Da gibt es genug Studien. Ein makropolitisches Modell eröffnet schlechte Aussichten: Wenn jede politische Maßnahme irgendwelche Gruppen belastet (was unvermeidlich ist), zugleich aber jede dieser Gruppen so stark (manchmal lautstark) ist, dass sie die belastende Maßnahme (unter Medienapplaus und Intellektuellengerede) verhindern kann, landet das System im Immobilismus. Dann geht nichts, auch nicht das Notwendigste.

Um ein Missverständnis zu vermeiden: Fast alle klimapolitischen Vorhaben sind großartig. Immer noch viel zu wenig. Sie verdienen jede Unterstützung. Es wäre anständig zu tun, was man tun kann. Aber gerade der Eindruck wäre fatal, dass wir die Sache beinahe schon erledigt haben und Politik und Technik schmerzlos den Rest erledigen. Auch das Vernünftigste kollidiert mit den geschilderten Mechanismen. Mein Besucher und ich, wir haben – leicht nostalgisch – in den alten Büchern aus den 1970er-Jahren geblättert. Haben wir seitdem gelernt? Ich schlichte die Bücher wieder ins Regal.