Liebe Leserinnen, liebe Leser!

Sie müssen verzeihen. Aber dieser Brief unterliegt strengster Geheimhaltung. Bedenken Sie immer, dass ich Ihnen all das nur unter dem strengsten Siegel der Verschwiegenheit anvertrauen kann. Es geht um Kollege S. Oder eigentlich geht es um den Erfolg von Marcel Hirscher. Der hat nämlich nicht nur mit ihm, sondern mit diesem Teil zu tun. Dem kleinen, roten. Ich weiß nicht einmal dessen korrekte Bezeichnung. Kugelschreiberspitzenhülle? Faserstiftabdeckung? Ohnehin egal. In Wahrheit ist es Quell’ allen Glücks, aller Erfolge. Und ich sage Ihnen, warum ich das weiß.

Kollege S. und ich teilen uns auf Weltcupreise ja nicht nur hier in Åre das Appartement. In Alta Badia aber stellte sich das „Appartement“ als Doppelzimmer mit Vorraum heraus. Und so wurde ich Zeuge, als Kollege S. eines Abends – wir waren gerade ins Quartier zurückgekehrt – panisch auf und ab lief. Er rüttelte am ausziehbaren Sofa, atmete flach, ließ sich nicht beruhigen. Es dauerte, bis er sich in der Lage sah, mir zu sagen, worum es ging. „Es ist weg“, stammelte er. Und nur noch so viel: „Eine Katastrophe!“ Ich fand nur heraus, dass wir nach einem kleinen Plastikteil suchten. Aber ich half. Hob das Sofa an, durchleuchtete jede Ritze. Und langsam erfuhr ich mehr. Ein Glücksbringer sei es. Besser, DER Glücksbringer. Kollege S. schluchzte beinahe. Zitterte. Sank auf sein Bett – und fand das kleine Teil auf seinem Nachtkästchen.

Ich war, gelinde gesagt, ein wenig empört, als ich sah, worum es ging. Dass ich gerade wegen einer Faserstiftspitzenabdeckung gerade das halbe Zimmer zerlegt hatte, erschien mir ein wenig übertrieben. Aber Kollege S. offenbarte mit fast beschwörend – und sichtbar erleichtert –, dass dieses Teil Grundlage aller Hirscher-Erfolge sei. Nur dank dieses Stiftkapperls, das er immer knete, könne er gewinnen, der Marcel. Ich grinste. Er nicht. Er beschwor mich, das niemandem zu erzählen. Dann, so fürchtete er, würde man ihm noch eine Manie andichten. Oder eine Psychose. Oder auch eine Zwangsneurose.

Seither beobachte ich Kollege S. verstohlen, wenn er das Teil knetet. Und ich sage Ihnen: Es hilft. Neurose? Keine Spur. Es geht hier um mehr. Ehrlich. Auch heute. Im Slalom. Aber: Psssst!

Herzlichst, bis morgen

Michael Schuen

Mehr zum Thema