Es sind Schrecken der Finsternis, Niederlagen und Enttäuschungen, die einen aufrütteln und weiterbringen im Leben. Demütigungen bringen Selbstreflexion und Entwicklung. Ähnlich ist es mit den Sternen, ihnen beim Strahlen zuzusehen, ist fad. Erst wenn sie verglühen, wird es spannend.

Das ist das Problem von Marcel Hirscher, er hat zu oft und zu regelmäßig gewonnen, zu selten eine Brez’n gerissen, sich kaum je eine Watsche eingefahren. Der österreichische Ausnahmekönner im Nationalsport Nummer eins musste sich nie nach Schicksalsschlägen aufraffen, hat sich nie um den Berg gewickelt und war in keine Skandale verstrickt.

Weder wurde er in Miami von einem Betrunkenen niedergeschoben noch von einem deutschen Pkw aus dem Motorrad gehoben, er hat nie versucht, im illuminierten Zustand in einer Diskothek einzubrechen, hat keine Türsteher bis zum Brechreiz angeflegelt, keine Straße Schnee gezogen und war auch nie versucht, für eine Bananen- oder Balkanrepublik zu starten. Keine Sexaffären, keine überhöhten Geschwindigkeiten in unübersichtlichen Kehren, keine Grapschgeschichten, ja, er hat noch nicht einmal einem Polizisten angedroht, sein Leben zu kaufen.

Über Marcel Hirscher gibt es Dopinggerüchte? Mitnichten! Da ist er Teflon, hat er seine Gegner in die Pfanne gehaut und gewonnen, gewonnen, gewonnen. Das macht ihn, auch wenn es ihm nicht schmeckt, suspekt. Dem vielleicht größten österreichischen Sportler der letzten hundert Jahre haftet der Makel an, makellos zu sein. Sein Nimbus ist, er ist zu brav. Kein grunzendes Urviech, das mit dem Ergometer ins Bett geht und mit der Mischmaschine frühstückt, kein Bergbauernkind, dem man den kilometerlangen, barfuß zurückzulegenden Schulweg am Kuhfladen-grind zwischen den Zehen ansieht. Er ist nicht durch vom Himmel gepurzelte, entwurzelte politische Meinungen aufgefallen, trägt keine Moonboots, die an ausgestopfte Cockerspaniel erinnern, singt keine seichten Schunkellieder und hat auf kleingeistigen Inseln nicht versucht, Land und Wasser zu verkaufen. Er ist kein ausgemachter Geizkragen, der letzte Tropfen aus Zapfsäulen saugt, und kein Prolo, dem man aufs Zerebral gehaut. Marcel Hirscher ist, man muss es sagen: ein cooler Typ. Einer, der mit dem Siegergen gesegnet ist. Und gerade das macht ihn in Österreich, so unglaublich das klingt, verdächtig.

Der Österreicher ist groß im Verlieren, definiert sich über Niederlagen mehr als über das Gewinnen. Wir haben fast ganz Kakanien verloren, nur eine einzige, letztlich bedeutungslose Seeschlacht gewonnen, haben in den meisten Kriegen Prügel bezogen und auch im Sport nie wirklich was erreicht – auch Cordoba war letztlich unbedeutend, seicht. Der österreichische Fan hat in unzähligen Exerzitien gelernt, Niederlagen als sportive Einübung in den Katholizismus zu begreifen. Alles Irdische ist bloß ein Hirngespinst und so bedeutungslos wie Sport von vorgestern. Wie siegreichen römischen Feldherren wird ihnen zugeschrien: Denkt an die Vergänglichkeit. Nur mit dem Unterschied, dass Österreicher niemals siegreich sind. Der heimische Sportfan definiert sich seit Jahrzehnten über den Hättiwaritäti. Hätte der Schiedsrichter gepfiffen, wäre die Torstange zwanzig Zentimeter weiter links gestanden, hätte ich damals die Lottomillionen gewonnen und so weiter.

Und jetzt kommt einer, der gewinnt und alles richtig macht. Sogar der Zeitpunkt seines Karriereendes scheint zu passen, nicht zu überhudelt wie Petra Kronberger, aber auch kein aufgepudeltes Weiterwursteln wie bei Gregor Schlierenzauer. Hirscher weiß, wann der richtige Zeitpunkt ist – das hat er mit dem letzten Papst gemein. Habemus Punktgenau.

Und auch wenn sich halb Österreich die Daumen zu Zwetschkenmarmelade quetschen lassen würde, nur damit er weiter konfitürt, ist die Dramaturgie seines Abschieds gut gesetzt. Österreich ist zu klein für so viel Butter auf dem Brot? Jedenfalls ist es zu klein für große Helden. Hier nörgelt man, dass einer, der von uns kommt, auch nichts Besonderes sein kann. Und als Motto gilt: Nichts gesagt, ist gelobt genug. Wir leiden an Idolen. Falco wurde erst nach seinem Tod beliebt, die Freiheitskämpfer der 48er-Revolution kennt keiner mehr, Widerstandskämpfer werden als Landesverräter diffamiert, Radetzky war ein kleiner, bissiger Choleriker, Andreas Hofer ein bärtiger, bauchiger Waldschrat, Natascha Kampusch wurde untergriffig übergriffig angegriffen, und Künstlern ist man neidisch aus Prinzip. Der Österreicher kann seine Helden nur akzeptieren, wenn sie gebrochen sind. Das ist wie bei chinesischen Gastgebern, die kleine Flecken ins Tischtuch machen, bevor die Gäste kommen, damit sich diese wie zu Hause fühlen. Und dann kommt Hirscher und zeigt, die Flecken braucht es nicht, die Ausrede des Österreicherseins zieht nicht mehr, das Suhlen im Selbstmitleid hat sich überlebt.

Er hat keine großen Niederlagen erlitten, wurde bei keinen Olympischen Spielen disqualifiziert, flog nicht über Nagano, brannte nicht am Nürburgring und musste sich auch nicht mit eingegipstem Unterleib zurückkämpfen, dennoch verdanken wir ihm krasse emotionale Momente. Gegen immer unterschiedliche Gegner hat er seine Weltcupgesamtsiege in den entscheidenden Rennen stets mit einer Coolness abgewedelt, dass man dachte, der Kerl hat Stahltrossen im Rückenmark. Er war nie ein Systemprodukt des Skiverbands, sondern wie Dominic Thiem trotz einfatschendem und klammerndem Verband ein freigespielter Superstar – dank der ungeheuren Energie seiner Familie. Über Jahre hinweg hat er in einem fragil grazilen Sport die Konkurrenten betoniert. Sein größter Sieg? Wahrscheinlich der, gesund aufzuhören.

Gut, Skifahren ist keine Weltsportart, und böse Zungen behaupten gar, es wäre auf der Konferenz zu Jalta beschlossen worden, die bedeutungslos gewordenen Österreicher mit der Herrschaft über das Brettelrutschen zu entschädigen.

Angeblich war es Teil des Marshallplanes, dieses Skifahren so zu etablieren, dass die Österreicher glauben, es wäre weltweit von Belang, obwohl eigenartigerweise immer nur Österreicher und Schweizer gewinnen durften. Das ist geglückt. Skifahren ist Teil der österreichischen Identität. Bundesheersoldaten werden zur Ausrichtung von Weltcuprennen abgestellt, „Skifoan“ von Ambros ist die heimliche Nationalhymne, und nicht mehr lange, dann hält sogar der Bundesadler Skistöcke und Liftbügel in der Hand. Noch heute wird den Österreichern vermittelt, ihre Skifahrer hätten internationalen Bekanntheitswert, dabei macht man sich in anderen Ländern meist nicht einmal die Mühe, Skirennen überhaupt nur zu erwähnen.

Die Österreicher lieben schlampige Genies: Werner Grissmann, James Hunt oder Jochen Rindt. Hier lässt man Leute erst hochleben, wenn sie tot sind. Und jetzt Hirscher: makellos, erfolgreich, international bekannt und auch noch gesund ausgestiegen. Das ist so unösterreichisch wie paniertes Steak. Ob er das Land verändert oder das Land ihn, wird sich zeigen, weil Österreicher haben einen seltsamen Umgang mit ihren Stars, sehen lieber beim Verglühen als beim Strahlen zu. Immer noch. Doch Hirscher leuchtet hell – nicht nur vom Giebelkreuz.