Dabei sticht eine Tatsache heraus: Baseball und die USA sind untrennbar miteinander verbunden.

Dieser Artikel wurde erstmals am 28. März 2017 veröffentlicht.

Ein ganz normaler Frühjahrsnachmittag in Boston: Major League Baseball ist angesagt. Die Boston Red Sox, amtierender Titelträger, empfangen die New York Yankees, die mit dem Titel seit Jahren nicht viel zu tun gehabt haben. Dementsprechend einseitig fällt die Partie dann auch aus, Boston gewinnt 3:0 und macht einen Schritt Richtung Titelverteidigung.

Starting Pitcher George Herman Ruth von den Red Sox liefert ein starkes Spiel ab, lässt gerade mal drei Singles und ein Double gegen das Green Monster zu, die von Werbebotschaften zugepflasterte hohe Mauer im linken Outfield. Rechts auf den Tribünen haben sich vor allem die Zocker zusammengefunden, die glücklicherweise zumeist auf einen Heimsieg getippt haben. Ein paar Jungen tauschen auf den billigen Plätzen Baseball-Karten und stopfen sich Süßigkeiten in den Mund. Ansonsten sind aber noch einige Plätze frei im 35.000 Zuschauer fassenden Fenway Park.

So - oder zumindest so ähnlich - dürfte es sich zugetragen haben.

1917. Vor über 100 Jahren.

Von Fenway Park bis Yankee Stadium: Die Stadien aller 30 MLB-Teams

American Football mag mittlerweile populärer sein, Basketball präsenter in Medien und Popkultur. Aber kein Sport ist derart untrennbar in die Seele der USA verwoben wie "America's favorite pastime" - Amerikas liebster Zeitvertreib. Von den großen Zeiten wie etwa den Goldenen Zwanzigern bis hin zu den schwarzen Flecken der Vergangenheit: Betrachtet man die Geschichte der USA, drängen sich unweigerlich auch Baseball-Schnappschüsse in den Fokus. So allzeit präsent sind die Historie und die Tradition des Sports, dass sie dessen Gegenwart zuweilen förmlich zu verschlucken scheinen.

Geschichte der MLB: Anfänge im 19. Jahrhundert

Dabei gehen die Ursprünge des Baseball noch um einiges weiter zurück als "nur" ein Jahrhundert. Angefangen hat alles schon mit den europäischen Siedlern, die Spiele wie Cricket oder Rounders über den Atlantik brachten. Es entwickeln sich diverse Formen des universell beliebten Konzepts "Einer wirft, der andere schlägt und läuft los", vor allem im Nordosten der USA.

Das erste Reglement ähnlich dem heutigen Sport wird schließlich dem New Yorker Alexander Cartwright zugeschrieben, der 1842 den Knickerbocker Base Ball Club begründet (104 Jahre vor den Basketballern gleichen Namens) und drei Jahre später die "Knickerbocker Rules" in Steintafeln meißelt.

Unter anderem löst er das Problem des durch eine Klebstofffabrik und mehrere Straßen eingegrenzten Spielfeldes durch das klassische Infield-Diamond mit anschließendem Outfield und dem "Foul Territory" (= Aus) zu beiden Seiten. Außerdem mit dabei: drei Strikes pro Out, drei Outs pro Inning und die 90 Fuß (knapp 27,5 Meter) Entfernung zwischen den einzelnen Bases. Ganz wichtig: Die Baserunner müssen von nun an mit dem Ball berührt und nicht einfach nur abgeworfen werden - was so einige Prügeleien verhindert haben dürfte.

Ob Cartwright einen Großteil dieser Regeln nicht doch von anderen Teams abgekupfert hat, ist mittlerweile wieder umstritten - und beim ersten offiziellen Spiel unter eben jenen Regeln am 19. Juni 1846 zwischen den Knicks und einem weiteren New Yorker Team verlieren erstere sang- und klanglos mit 1:23 (Cartwright selbst übrigens belegt als Referee einen Knicks-Spieler wegen Fluchens mit einer Geldstrafe von sechs Cent). Dennoch verbreiten sich Cartwrights Regeln schnell über den New Yorker Raum und schließlich, auch aufgrund des Bürgerkriegs, der Soldaten aus der ganzen Nation zusammenbrachte, in den gesamten USA.

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Baseball im 19. Jahrhundert: Vom Freizeit- zum Publikumssport

Kein Wunder also, dass in Sachen Tradition kaum eine Sportart mithalten kann. Welcher NBA-Fan weiß schon, dass der berühmte Spalding 1894 nur zum offiziellen Spielgerät wurde, weil Pitcher A.G. Spalding aus Chicago 1876 den ersten universell adoptierten Baseball erfand und so den Grundstein seines späteren Unternehmens legte? Oder welcher Fußball-Fan, dass 1869 mit den Cincinnati Red Stockings der erste Profiklub aus der Taufe gehoben wurde, 16 Jahre bevor die FA Profi-Mannschaften zuließ?

Amerikas liebste Freizeitbeschäftigung nahm langsam Formen an: Aus mehreren gegründeten Verbänden ist es die 1876 ins Leben gerufene National League, welche die stärksten Teams der großen Städte aufnimmt und über Verträge, Spielergehälter und die Einhaltung der Spielpläne entscheidet. Es bleibt turbulent: Franchises ploppen auf und gehen ein, dazu kommen bittere Streitigkeiten der Teambesitzer und Schlägereien zwischen den Spielern. 1894 bricht in einem Bostoner Stadion sogar ein Feuer aus und zerstört Teile der Stadt.

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"Stadion" ist übrigens zunächst noch relativ: Anfangs wird auf weitläufigen Wiesen am Stadtrand gespielt, nach und nach kommen dann hölzerne Tribünen um das Infield hinzu - im Outfield trennt die Zuschauer vielleicht nur ein Zaun oder ein gespanntes Seil von den Spielern. Und dieses Outfield kann enorme Ausmaße annehmen: Beträgt heute die größte Distanz zwischen der Home Plate und der Wand im Center Field nicht mehr als 420 Fuß (128 Meter), kann sie damals locker 500 oder mehr Fuß betragen. Dementsprechend selten sind Homeruns.

Die erste World Series: Die MLB ist angekommen

Aber schon vor der Jahrhundertwende rücken die Ballparks näher an die Stadtzentren heran und bieten mehreren tausend Zuschauern Platz. Wobei der endgültige Durchbruch noch etwas dauern soll: Erst als sich die American League neben der schwächelnden National League als zweite große Liga etabliert und man sich 1903 auf die Austragung der ersten World Series zwischen den beiden Champions einigt, kehrt etwas Ruhe ein.

Diese erste World Series zwischen den Pittsburg (bis 1911 ohne "h" am Ende) Pirates und den Boston Americans - den heutigen Red Sox - lockt zum Spiel 3 über 18.000 Zuschauer in den Bostoner Ballpark. Boston gewinnt die Serie mit 5-3, ein Spiel dauert im Schnitt keine zwei Stunden. Und im Outfield des ehemaligen Zirkusgeländes steht damals noch ein Geräteschuppen ...

Aber die Nation hat Lust auf Baseball: Zur Eröffnung des Shibe Park in Philadelphia, dem ersten Stahl-und-Beton-Ballpark überhaupt mit insgesamt 23.000 Plätzen, drängeln sich über 45.000 Fans vor den Eingängen - weitere 6.000 schauen von benachbarten Dächern zu. Andere Teams ziehen nach: Der Fenway Park und das Braves Field (40.000) in Boston oder die Polo Grounds in New York (34.000), in dem unter anderem die Yankees aufschlagen, folgen.

Baseball-Boom in den 1920ern - dank Babe Ruth

Der endgültige Boom kommt schließlich in den 20er Jahren, und das hat mehrere Gründe. Die USA sind auf einmal die größte Supermacht der Welt. Die Bewohner der prosperierenden Städte haben plötzlich Geld in der Tasche - und Freizeit, um dieses Geld auszugeben. Warum also nicht einen gemütlichen Nachmittag im sonnigen Stadion verbringen? Nationale Zeitungen versorgen die Fans mit Infos und abgedruckten Boxscores, und von 1921 an gehen die Auftritte von Stars wie Ty Cobb oder Lou Gehrig auch im nationalen Radio über den Äther.

Noch wichtiger ist jedoch das Ende der "Deadball Era": Spielbälle kosten zum Anfang des 20. Jahrhunderts für damalige Verhältnisse ein kleines Vermögen und werden deshalb bis zur Unendlichkeit genutzt. Ein abgewrackter, dreckiger Ball - der zudem vom Pitcher gerne mal mit der einen oder anderen Substanz zum "Spitball" präpariert wird - ist aber kaum zu treffen, und schon gar nicht aus den weitläufigen Stadien zu prügeln.

Das ändert sich mit dem Jahr 1920. Eine Kombination aus kleineren Stadien, neuartigen und öfter ausgetauschten Spielbällen und verbotenen Pitches führt zu einer Offensiv-Explosion und zum Baseball-Boom. Und zum größten Superstar, den der Sport jemals hat: Babe Ruth. Jener Ruth, der bei den Red Sox noch als Pitcher geglänzt hat, wird 1919 an die Yankees abgegeben und dort zum besten Power-Hitter seiner Zeit. 1920 schraubt er den Homerun-Rekord von 29 auf 54 hoch, im Jahr darauf gar auf 59 - eine Dekade zuvor hat kaum jemand überhaupt zehn Homeruns geschlagen.

Das führt nicht nur zu zahllosen Nachahmern, sondern auch zu Zuschauerrekorden im Big Apple: Angeführt von "The Great Bambino" können es sich die Yankees erlauben, 1923 ihr eigenes Stadion zu eröffnen. Mit sage und schreibe 58.000 Plätzen. Im gleichen Jahr holen die Bronx Bombers den ersten von mittlerweile 27 Titeln - das "Evil Empire" ist geboren. Im "Haus, das von Ruth gebaut wurde", wie die Yankees-Fans ihr Stadion nennen.

Natürlich macht der Sport auch in den kommenden Jahrzehnten Krisen durch: Die Great Depression lässt die MLB ebenfalls nicht unversehrt, während des Zweiten Weltkriegs wird übergangsweise sogar eine Frauenliga gegründet. Eine zweite "Deadball Era" in den 60ern drückte die Statistiken erneut für ein knappes Jahrzehnt nach unten. Und die Einführung des Designated Hitter in der American League 1973 - also eines Schlagmanns, der in der Offensive für den Pitcher einspringt, defensiv aber nicht spielt - spaltet die Fans bis heute.

Dennoch ist am Status als "America's pastime" nicht zu rütteln. Wer hätte Baseball den Titel auch streitig machen können? Über viele Jahrzehnte halten vor allem Boxen und Pferderennen den amerikanischen Fan in ihrem Bann, aber dabei handelt es sich um seltene Events, die der MLB die tägliche Coverage nicht streitig machen. Die NFL wird erst in der Super-Bowl-Ära und mit der Einführung von Monday Night Football Anfang der 70er zur TV-Großmacht, die NBA mit Bird, Magic und Jordan in den 80ern so richtig populär. Eishockey? Die NHL kann traditionell nur in bestimmten Landstrichen punkten. Von Fußball ist ohnehin keine Rede.

Die Rekordchampions der MLB

Team Titel New York Yankees 27 St. Louis Cardinals 13 Philadelphia/Kansas City/Oakland Athletics 9 Boston Red Sox 9 New York/San Francisco Giants 8 Brooklyn/Los Angeles Dodgers 6 Twitter

Baseball in den USA: Kein Ende in Sicht - oder?

Da gehört Baseball schon längst "einfach dazu". Nach Babe Ruth springen andere Stars wie Joe DiMaggio, Ted Williams, Mickey Mantle oder Sandy Koufax in die Bresche, und als man mit Jackie Robinson 1947 die Farbbarriere überwindet - viele Jahre vor Martin Luther King und vor allen anderen Ligen -, schöpft man auch das athletische Potenzial der Schwarzen aus. Bob Gibson, Willie Mays, der neue Homerun-König Hank Aaron: Sie werden zu Legenden. Bis zu diesem Zeitpunkt haben die schwarzen Spieler in parallelen sogenannten "Negro Leagues" ein Schattendasein gefristet, einst kollektiv ausgeschlossen durch ein "Gentlemen's Agreement" (nie war der Begriff so falsch gewählt wie hier).

Der schleichende Niedergang des Sports in der öffentlichen Wahrnehmung, er ist noch nicht abzusehen. Die Baby-Boomer-Generation hat die Liebe zum Spiel von ihren Vätern geerbt und gibt sie ihrerseits an den Nachwuchs weiter: Vom Baseball-Karten sammeln zur lockeren Wurfrunde im Garten, vom täglichen Studieren der Ergebnisse in der Morgenzeitung zum eigenen Statistikzettel im Stadion-Oberrang - Stift in der einen, Hot Dog in der anderen Hand. Zum Seventh-inning strech, der traditionellen Pause in der Mitte des siebten Innings, wird alles kurz zur Seite gelegt: Zeit für das ganze Stadion, "Take Me Out to the Ball Game" zu singen. Ob Football oder Basketball - das "Ball Game" ist und bleibt Baseball.

© imago images / BBL-Foto

Baseball heute in den USA: Nationales Desinteresse

Das ist es heute nur noch nominell. Zwar ziehen die 30 Teams jedes Jahr über 70 Millionen Zuschauer in ihre Ballparks, aber diese enorme Ziffer ist vor allem den je 81 Heimspielen geschuldet. Auch finanziell steht der Sport dank nationaler und lokaler TV-Deals und den vielen Übertragungsstunden extrem gut da: In Sachen Umsatz (9,44 Milliarden Dollar) läuft man nur der übermächtigen NFL hinterher (12,27), NBA (5,57) und NHL (3,3) hat man klar distanziert. Und die Spielergehälter sind enorm und dank einer starken Gewerkschaft voll garantiert.

Aber die nationale Aufmerksamkeit schwindet: 1978 liegt die Einschaltquote der World Series zwischen den Yankees und Dodgers bei 56 Prozent. Heute ist davon vielleicht noch ein Drittel übrig, und diese Fans sind im Schnitt so alt wie bei keinem anderen Sport. Seit Jahren diskutiert die Liga, woran das liegt - und wie man den Rückstand in puncto Beliebtheit, Aufmerksamkeit und Nachwuchs wettmachen kann.

Probleme der MLB: Wer ist schuld am Niedergang?

Viele Faktoren sind dabei kaum zu revidieren: Der Sportfan hat mittlerweile einfach viel mehr Optionen, darunter leiden fast alle Einschaltquoten. Baseball ist regionaler geworden - warum ESPN einschalten, wenn ich im Lokalsender mein eigenes Team sehen kann? Der Sport an sich ist schlicht nicht actionreich und "flashy" genug für die heutige Zeit, bringt stattdessen zu viel Leerlauf mit sich. Für den Nachwuchs macht ein LeBron James eben einfach mehr her als ein Mike Trout.

Und dieser Nachwuchs greift immer seltener zu Handschuh und Schläger: Keine Zeit, keine Möglichkeiten in den Großstädten, keine Geduld - Baseball ist einfach verdammt schwer! - oder auch das Schwinden der klassischen Zwei-Eltern-Familie, in der Sohnemann (und Tochter) die Liebe zum Sport in jungen Jahren eingeimpft bekommen. Konsequenz: Wer selbst nie gespielt hat, wird später seltener Fan.

Natürlich gibt es auch hausgemachte Probleme: Der Streik 1994, dem die kompletten Playoffs inklusive World Series zum Opfer fallen, führt dazu, dass sich viele Fans abwenden - genauso wie der Steroid-Kater, der auf die Homerun-Sause zur Jahrtausendwende folgt. Die Vermarktung der Stars ist dürftig, in den sozialen Netzwerken findet Baseball nur selten statt. Während NFL und NBA fast täglich mit neuen Rekorden Schlagzeilen produzieren, blickt man bei der MLB sehnsüchtig zu den Bestmarken vergangener Dekaden, allesamt nahezu unerreichbar.

Geschiche des Baseball: Der Sport ist alt geworden

Es ist ein faszinierendes und gleichzeitig frustrierendes Schauspiel, wie Tradition und Moderne gleichermaßen an der Essenz des Sports zerren. "So haben wir es schon immer gemacht" ist in der MLB Teil eines jeden Schlussplädoyers, bewahren wichtiger als erobern. Dabei war die Liga oft ganz vorn dabei, wenn es um Innovationen ging: Der Fantasy-Boom entsprang fleißigen Baseball-Hirnen, das "Moneyball-Prinzip" stieß die Statistik-Revolutionen des letzten Jahrzehnts an. Kein Sport eignet sich so sehr für technologische Aufbereitung. Und kein Sport ist so old school.

Äußerst zaghaft wagt sich Commissioner Rob Manfred derzeit an Innovationen: Die Partien sollen schneller, die Leerlaufphasen überschaubarer werden - vielleicht kommt in Kürze sogar eine Art "Shot Clock". Die Tatsache, dass er sich dabei nicht nur mit den Traditionalisten in den Führungsetagen und bei den Fans, sondern auch mit den Spielern herumschlagen muss, steht sinnbildlich für die Zerreißprobe, der der Sport ausgesetzt ist.

Ist die MLB gesund? Ist sie krank? Ja und nein. Am ehesten bringt es man es vielleicht wie folgt auf den Punkt: Baseball ist schlicht und ergreifend älter geworden. Mit allem, was dazu gehört.

Und nun? Welche Rolle America's pastime in weiteren 100 Jahren spielen wird, ist völlig offen. Vielleicht erfindet sie sich neu und erstrahlt irgendwann wieder wie zu Zeiten Babe Ruths und Joe DiMaggios. Vielleicht rückt sie einfach nur etwas wehmütig ins zweite Glied zurück, wird eine unter vielen. Ein Sport gleich einem Symbol der Rolle Amerikas in der Welt.

Aber wie die Zukunft auch aussieht: Baseball wird bleiben. Wie sagte doch Hall of Famer Willie Stargell einmal: "Für mich war der Baseball-Sport immer ein Spiegelbild des Lebens. Er passt sich an - und übersteht alles."